Auszüge aus
Protokoll gegen Zwetschkenbaum
S. 7 bis S. 21
In dem sehr zweifelhaften Schatten eines sogenannten Zwetschkenbaumes saß ein Mann, der hieß auch Zwetschkenbaum, aber er war es nicht. Diese Familienbezeichnung gibt nämlich allerdings einen guten Namen für die damit gemeinte Pflanze mit verholztem Stengel oder Stamm ab. Denn sie ist gebräuchlich für alle Gewächse solcher Art, welche hinwiederum nützlich und beliebt sind. Dagegen hält man erwähnten Namen für schlecht, wenn er einen Menschen betrifft, und der Verruf, in dem er steht, hat seine Begründung nicht etwa darin, daß einmal ein großer philosophischer Dichter behauptet hat, vieles im Menschen sei noch Pflanze und Gespenst; sondern vielmehr ist man zu einer absprechenden Ansicht deshalb gelangt, weil die Benennung besagten Vegetationsteiles auch noch häufig von einer Spezies Kreatur (Gattung Lebewesen) für sich in Anspruch genommen wird, die man gemeinhin Juden nennt. Und so ist es auch kein Zufall, daß es einmal einen Juden namens Zwetschkenbaum gab, von dem hier die Rede ist.
Dafür, daß er an einem eingangs bezogenen Tage unter einer Pflanze gelegen sei (habe), deren Namen einer seiner Stammesvorgänger sich angeeignet hat, gibt Genannter die folgende Begründung an. Er heiße Schmul Leib Zwetschkenbaum, sei gebürtig in Brody (Ostgalizien), wo sich auch seine Eltern befunden hätten, zu der Zeit nämlich, als dieselben noch am Leben gewesen wären. Sie seien nach Hinterlassung von sieben Kindern arm gestorben. Vorher hätten sie mit allem möglichen gehandelt, angeblich ohne bleibenden Nutzen. Von den sieben Kindern seien zwei in Amerika, und zwar einer in einer Wäscherei, der andere in einer Färberei tätig gewesen. Diese hätten früher ab und zu Geld für die Familie geschickt, seit Ausbruch des Weltkriegs aber nichts mehr. Von dem dritten Bruder, Salomon, wird behauptet, daß er als Soldat im Felde stehe, ein vierter Bruder mit Vornamen Jankel sei daselbst nach Ansicht des Befragten bereits gefallen. Der fünfte Bruder, Itzig, sei krank. Man habe ihm bei einem Pogrom die Wirbelsäule gebrochen (Anmerkung: vielleicht hat er sich dieses Übel auch anderweitig zugezogen). Der Rest an Geschwistern bestehe aus einer Schwester Jerucheme, die sich in Lemberg angeblich durch Arbeit fortbringe (Anmerkung: wahrscheinlich also durch geheime Prostitution). Er, Schmul Leib Zwetschkenbaum, vierundzwanzig Jahre alt, mosaisch, ledig, von Beruf Talmudschüler, ohne festen Wohnsitz, ist sichtlich hüftenkrumm, weil er einmal irgendwo gefallen sei (Anmerkung: vielleicht von einem fremden Obstbaum). Er habe sich vor den Russen geflüchtet, und die bei ihm aufgefundene Barschaft von sechs Hellern und ein Binkel, enthaltend zwei schmutzige Hemden, ein Paar zerrissene Strümpfe und einige mit hebräischen Lettern geschriebene Bücher, seien sein restliches Eigentum. Unter den Zwetschkenbaum aber habe er sich gesetzt (wörtlich: sei er zu sitzen gekommen), weil sich kein anderer Baum im Umkreis befinde. Er habe auch gar nicht daran gedacht, daß er gerade auf einen Zwetschkenbaum gestoßen sei und das Gewächs noch nicht in diese Richtung hin untersucht. Er sei vielmehr bloß in dem recht zweifelhaften Schatten des Baumes gesessen und habe in einem der für Ortsansässige unverständlichen Bücher gelesen. Sodann habe er den großen Gott zum Zeugen angerufen, wie schön diese Welt sei, auch dabei nicht im entferntesten an den Zwetschkenbaum gedacht, unter dem er doch saß. Er habe schließlich die Bibel hebräisch zitiert und einen hebräischen Autor mit singender Stimme aufgesagt, welch letzterer bekanntgibt, daß die Blumen das jüdische Halbfünfuhrnachmittagsgebet mit allem rituellen Wackeln und Schütteln verrichten.
Bei dieser Gelegenheit wurde er von dem Ortsgendarmen Johann Schöberl als verdächtig angehalten. Er verfügte über keinerlei Ausweispapiere. Befragt, ob er in das Anwesen des Johann Hinterroder zum Behufe des Obstdiebstahles eingedrungen sei, verneint er sehr heftig. Er leugnet auch, den Zaun beseitigt zu haben, der offenbar an dieser Stelle fehlt und den der diensthabende Gendarm noch am Vortage am Orte wahrnehmen konnte. Auf die Frage, ob er Hunger habe, antwortete der Verdächtige ausweichend, doch konnte aus dem Aussehen und der Höhe der Barschaft des Angezeigten sein Leugnen widerlegt werden. Aus einer Anzahl am Tatort frisch ausgespuckter Kerne ergibt sich, daß hier jüngst unmittelbar ein Zwetschkenessen in nicht unbeträchtlichem Umfange stattgefunden haben müsse. Zwetschkenbaum stellt dennoch den Zwetschkendiebstahl mit vielen, nur zur Hälfte verständlichen Worten und lebhaften Gebärden in Abrede. Der Genannte wurde dem Bezirksgericht wegen Vagabundage- und Diebstahlverdachts überstellt.
In dem Sammelgefängnis des österreichischen Bezirksgerichtes verhielt sich Schmul Leib Zwetschkenbaum zunächst verhältnismäßig still und hörte nicht auf Anrufe seiner Zellengenossen, die ihn, in Unkenntnis seines Namens, aber in Kenntnis sonstiger, offen ersichtlicher Umstände, in kerniger, launiger, doch völlig harmloser Art mit »stinkender Mausche« ansprachen. Zu seiner ängstlichen und verschlossenen Haltung kann ein Grund nicht leicht gefunden werden, wenn man sie nicht als Zeichen der Reue oder Furcht, sich zu verraten, oder ganz allgemein als das Ergebnis arteigentümlicher Überheblichkeit ansprechen will. Denn die willige und unbedingte Einfügung in die staatlichen Personenverwahrungs- oder Strafeinrichtungsanstalten und die in diesen hergebrachte Ordnung ist wohl das mindeste, das billigerweise von einem Verdächtigen oder Überwiesenen verlangt werden kann, und für einen »Zellenbruder« kann wohl die Gesellschaft anderer Gefängnisbewohner nicht schlechter sein als seine eigene für ebendieselben.
Durch sein absonderliches und wohl auch anmaßendes Verhalten geärgert, sahen sich Franz Schafstock und Hermann Würmel, beide wegen Verdachtes des Einbruchsdiebstahls, begangen beim Pfarrer Schleuner, hier eingeliefert, veranlaßt, besagtem Schmul Leib Zwetschkenbaum zunächst zur Abkühlung seines Stolzes den gefüllten Abtrittseimer über den Kopf zu entleeren. Als er aber daraufhin nur mit Zittern und Stöhnen reagierte, empörten sich die beiden, wie sie sagten, über den Mangel an Würde des vorher Angeschütteten und versetzten ihm einige Fußtritte in seine Weichteile, worauf er mit natürlicher Stimme zu schreien begann. Der Vollstreckungsbeamte, Gerichtsdiener und Gefängniswärter in einer Person, Herr Joachim Riegelsam, wurde durch das Schreien darauf aufmerksam gemacht, daß im Gerichtshause Ungehörigkeiten im Gange seien. Er verwarnte lächelnd die Herren Schafstock und Würmel, als Zwetschkenbaum eine wirre, von den vorigen oftmals verständlich gemachte und richtiggestellte Darstellung der Sachlage vortrug. Derzufolge faßte ihn das Amtsorgan am Kragen und beförderte ihn solcherart in das Einzelgefängnis, das für den Herrn Fuhrwerksbesitzer Wilhelm Schnüffl aus dessen eigenen Mitteln angeschafft war. Dieser, der Vater eines hohen Gerichtsfunktionärs in Wien, hielt nämlich in seinem großen Gewerbe eine Anzahl Kutscher beschäftigt, welche er des öfteren wegen anstößigen Verhaltens leicht am Körper zu beschädigen pflegte. Er wurde dieserhalb einige Dutzende Male zuerst mit Geld-, später mit kleineren Freiheitsstrafen belegt. Da er die letzteren begreiflicherweise nicht in der Gesellschaft von Diebsgenossen und ähnlichen Personen verbüßen wollte, ließ er auf eigene Kosten für sich einen Einzelarrest bauen. Im Augenblick war der Raum verfügbar, da Herr Schnüffl wegen Bettlägerigkeit schon seit langem nicht mehr seiner gewerblichen Beschäftigung nachging. So konnte in diesem immerhin gerichtszugehörigen Arreste Schmul Leib Zwetschkenbaum untergebracht werden.
Derselbe verhielt sich nun darin vollkommen still. Ob er sein Zittern dortselbst in gleicher Weise wie im Gemeinschaftsraume fortgesetzt hat, kann mangels Zeugen nicht gesagt werden. Als ihm am Abend der Herr Gefängnisaufseher Riegelsam die Brotsuppe hineingeschoben hatte, dürfte er sie allerdings nicht berührt haben; denn diese wurde am nächsten Morgen in kaltem Zustande noch an demselben Platze angetroffen. Als ihn der Gefängnisaufseher solchen Umstands halber vorwurfsvoll ansah, fand ersterer letzteren mit verzerrtem Gesicht. Vielleicht wollte der Häftling die Schmerzen, die von den empfangenen Fußtritten herrührten, übertreiben. Vielleicht war das seine Art, sich mit sich selbst zu unterhalten. Jedenfalls schien sein Hunger stärker als die von ihm wohl nur vorgeschützten Schmerzen. Am vierten Tage konnte der Herr Gefängnisaufseher Riegelsam bereits einen höchst merkwürdigen, aber völlig unverständlichen Gesang aus der Zelle wahrnehmen. Als er diese öffnete, wurde er von Zwetschkenbaum anscheinend nicht ins Auge gefaßt. Vielmehr sah dieser mit einem wenig begründeten Lächeln dem Gehaben einer Maus zu, welche sich anschickte, durch einen allerdings für sie kaum zureichenden, beim nachlässigen Schließen der Türe entstandenen Spalt auf den Gang zu entweichen. Da besagtes Lächeln auch nicht durch laute Zurufe seitens des Herrn Riegelsam zum Schwinden zu bringen war und überhaupt Zwetschkenbaum denselben immer noch nicht bemerkt zu haben schien, beseitigte dieser den ungewöhnlichen Anlaß zur Lustigkeit, indem er das Ungeziefer mittels Fußtritts dauernd an der Verlegung des Betätigungsfeldes nach außen verhinderte. Das dem Verenden vorhergehende Quieken des Nagetiers veranlaßte eine Veränderung in dem Mienenspiele des Zwetschkenbaum, welches nunmehr helle Verzweiflung aufwies, ohne daß er jedoch seine Blicke von dem Aase abgezogen und dem Gerichtsorgane zugewendet hätte. Daher beschloß letzteres, den Richter zu verständigen, daß in der Schnüfflzelle seit fünf Tagen ein offenbar im Kopfe nicht ganz richtiger Häftling sitze.
Der Richter, welcher Xaver Bampanello von Kladeritsch hieß, beschloß nach Entgegennahme erwähnter Meldung den in Rede Stehenden unverzüglich zu vernehmen, zumal derselbe nach dem Gesetze alsbald nach seiner Einlieferung hätte gehört werden sollen. Bei dem Wiedererscheinen des Gerichtsdieners mit dem mitgebrachten Häftling war Doktor Bampanello jedoch im Begriffe, seinem Schriftführer, dem Kanzleidirektor Johann Chotek, Rechtsfälle auseinanderzusetzen. Er führte dieses Vorhaben trotz Störung seitens der Neuankömmlinge durch, ungeachtet auch der Gegenwart des Rechtsanwaltes Dr. Josef S. (Abkürzung für Saul oder Salomon) Meyer, welcher gerade in Vertretung des durch den Einbruchsdiebstahl Schafstock und Konsorten geschädigten Pfarrers Schleuner in überflüssiger Weise vorgesprochen hatte und dazu noch anwesend war.
Der zunächst vom Richter erzählte Rechtsfall betraf einen lizenzierten blinden Bettelmusikanten, dessen gleichfalls lizenzierte weibliche Begleitperson, nämlich seine siebzehnjährige Tochter, bei Ausübung der lizenzgegenständlichen Tätigkeit in den linken Ober- und den rechten Unterschenkel gebissen worden war – und dieses von seiten des nicht hinlänglich angeketteten und daher losgekommenen Hofhundes eines Gehöftsinhabers. Der bewiesene Verdienstentgang in Höhe des doppelten Arbeitslohnes eines qualifizierten Werkführers war für die Krankheitsdauer des Mädchens von einem Monat in Anspruch genommen und außerdem durch Auskunft festgestellt worden, daß selbst bei dringendem Begehren einer lizenzgegenständlichen Ersatzbegleitperson bei der für deren Zulassung zuständigen behördlichen Landesstelle die Erledigung der Gewährung mindestens zwei Monate in Anspruch genommen hätte. Da aber einerseits der Hofhund nicht etwa gar nicht, sondern nur nicht hinlänglich angekettet war, andererseits bei demzufolge vorliegenden nur leichten Versehen statt dem sonst in Betracht kommenden groben Verschulden nicht der Entgang des Gewinns, sondern nur der wirkliche Schaden zu ersetzen war, konnte der Kläger nicht den Ausfall im Betriebe seines lizenzierten Bettelmusizierens, sondern nur die Auslagen für ein ärztliches Parere von fünf Kronen begehren, wohingegen er hinwiederum in den Ersatz der Kosten des in drei Instanzen geführten Prozesses per vierhundertfünfundachtzig Kronen zu verfällen war. Er rächte sich übrigens, indem er die Begleichung der letzteren an den Anwalt des Beklagten in Zweihellerstücken leistete. Darin war er offenbar dem Beispiel eines kurz vorher wegen Bettelei verurteilten, nichtlizenzierte Mildtätigkeit herausfordernden Subjektes gefolgt, das sich nach der Hauptverhandlung, die zu seiner Verdammung geführt hatte, eifrigst nach seiner Schuldigkeit erkundigte, und einige Wochen nach Haftabsitzung mit dem Betrage der der Einfachheit halber bereits als uneinbringlich abgeschriebenen Gerichtskosten, sogar zum Teil in Einhellermünzen aufgestapelt, erschienen war. Daraufhin mußte er allerdings wegen der unzweideutigen Herkunft seiner Sammlung von Dr. Bampanello neuerdings in Haft genommen werden. Immerhin konnte freilich bei dem lizenzierten Bettelmusikanten nicht in gleicher Weise vorgegangen werden. Der Rechtsfall wurde von den Eingeweihten, nämlich Oberoffizial Chotek und Rechtsanwalt Dr. Josef S. Meyer, mit beifälligem Nicken aufgenommen; lediglich in Ansehung des Beiwerkes desselben gestattete sich der letztere die Bemerkung, die beiden Bettler, der lizenzierte und der nichtlizenzierte, hätten vielleicht nicht die Absicht der Ärgerniserregung gehabt, sondern nur im Sinne vermeintlicher Pflichterfüllung mit jenen Münzsorten bezahlt, die ihnen zur Verfügung gestanden seien. Währenddem hatte sich Riegelsam mit weiteren Beobachtungen Zwetschkenbaums beschäftigt und aus dessen starrem und befremdlichem Ausdruck abgeleitet, daß dieser mit dem Gehörten nicht fertig werden konnte. Wahrscheinlich war es ihm schon wegen seiner Gemütsbeschaffenheit nicht möglich, einem geradlinigen Gedankengang zu folgen, vielleicht auch wegen seines im Talmud verstrickten Denkens. Jedenfalls murmelte er zuletzt etwas von vierhundertfünfundachtzig Kronen, als ob er zur ungeteilten Hand mit dem Bettler hafte oder wenigstens das Geld zu zählen haben würde.
Inzwischen war aber der Richter auf einen anderen Rechtsfall übergegangen, nämlich den der Emerentia Nachoda. Er nannte diesmal auch den Namen, nicht etwa, um die von Amts wegen schon gegebene richterliche Glaubwürdigkeit unnützerweise noch zu unterstreichen, sondern vielleicht, weil der Name dem Berichte eine besondere Note, Klangfarbe, Untermalung gab, oder auch nur, weil er ihm gerade einfiel. Erwähnte unschöne, aber mit einer Einzimmerwohnung versehene Landdame befand sich im achten Monate schwanger von einem Manne, den sie nur dadurch hätte beschreiben können, daß er zum Zeitpunkt des Kennenlernens und der damit nahezu zusammenfallenden Entstehung ihrer Schwangerschaft einen Lederrock mit Gürtel getragen hatte. Mangels Auffindbarkeit des so Beschriebenen sei sie verzweifelt in den Wald gegangen, um sich an einem der dort zahlreich zur Verfügung stehenden Bäume zu erhängen, oder vielleicht auch nur, um daselbst Holz zu stehlen, habe aber statt dessen die Bekanntschaft eines Höhlenbewohners gemacht, der sich nach kurzer Rücksprache zur Übernahme der Vaterschaft gegen Aufnahme in das Zimmer genannter Dame bereit erklärte. Er leistete nicht nur vor Doktor Bampanello außer Prozeß das Anerkenntnis der Vaterschaft zu diesem, nicht von ihm stammenden Kinde, sondern vor Jahresablauf noch zu einem zweiten, das bereits ihm die Entstehung verdankte. Sowie aber vormaliger Höhlenbewohner an einem Arbeitsplatze Verwendung und Verdienst gefunden hatte und sohin zahlungsfähig geworden war, bestritt er sogleich die Wirksamkeit seiner ersten außerprozeßlichen Erklärung im Prozeßwege. Bampanello wies ihn ab, da er die aktenmäßige Vaterschaft für unwiderruflich hielt. Das höchste Gericht jedoch sprach ihn von dieser los, da es annahm, daß ein Anerkenntnis vor Bampanello als Prozeßrichter auch ohne physische Zeugung einer solchen in der Rechtswirksamkeit gleichgekommen wäre, vor ebendemselben als Außerprozeßrichter erklärt, aber nur ein Tatsachengeständnis bliebe, das nachträglich durch Gegenbeweis entkräftet werden könne. Dieser Vortrag wurde von Chotek still aufgenommen, wahrscheinlich, weil er die Sache schon amtswegig kannte, von Dr. Josef S. Meyer durch Räuspern, weil er entweder die Ansicht des Ober- oder die des Untergerichts nicht teilte oder an dem behandelten Stoffe Anstoß nahm, von Zwetschkenbaum aber mit tieftraurigem Ernste. Vielleicht dachte er sogar an das »arme Kindlein«, das als nichtanwesende Partei zum Verfahren Anlaß gab und ihn überdies nichts anging.
Als Chotek nunmehr, ohne Zusammenhang mit dem Vorigen, die Verlegenheitsbemerkung einwarf, ein Richter müsse strenge sein, entschuldigte sich Bampanello mit Gründen der Menschlichkeit, es nicht immer genügend gewesen zu sein. So kam er auf einen Häusler (Kleinhüttenbesitzer) zu sprechen, der nach fortgesetzten Holzdiebstählen im Walde schließlich bei einem solchen Betreten, mit Rücksicht auf die Versorgung seiner zwei mutterlosen Kinder seitens Bampanello nicht mit der gesetzlichen Höchststrafe von sechs, sondern nur mit einer solchen von fünf Monaten belegt worden sei. Der Mann sei übrigens auf das bloße Gerücht von der Erkrankung eines seiner beiden Kinder ausgebrochen und, wieder in den Arrest zurückgebracht, nach Erhalt der amtlichen Nachricht vom Ableben seines fünfjährigen Sohnes Friedrich endgültig abgefahren, indem er während der disziplinaren Ahndung seines ersten Entweichens in Einzel- und Dunkelhaft sich mit einem vorschriftswidrig eingeschmuggelten Rasiermesser die Halsschlagadern zu stark angezapft habe.
An dieser Stelle ließ sich plötzlich Dr. Josef S. Meyer vernehmen und machte eine Anspielung, aus der hervorging, daß er das richterliche Wortbild vom »Abfahren« sowie auch das vom »Anzapfen« besonders übelnahm, wobei dahingestellt bleibt, ob seine Empfindlichkeit auf den kürzlich seinerseits erworbenen Christenglauben oder die in Anbetracht solcher Bekehrung erlangte Vertretung des Pfarrers Schleuner zurückzuführen war. Überdies bezeichnete er die vom Richter verhängte Strafe und die Disziplinierung des Verurteilten in Dunkel- und Einzelhaft zugleich als besonders hart und nicht im Sinne des Gesetzgebers. Bevor aber Dr. Bampanello noch zu einer obrigkeitlichen Erwiderung ausholen konnte, entschuldigte sich Doktor Josef S. Meyer bereits und entfernte sich mit Bückling. Der Richter blickte nachlässig auf den krummen Rücken des Abgehenden, und es war vielleicht kein Zufall, daß sein Blick von dieser Reversseite auf den gleichfalls gekrümmten Rücken Zwetschkenbaums überging, den er jetzt besonders ins Auge faßte. Auch Chotek betrachtete verwundert den Eigentümer besagter Rückansicht, während Riegelsam dies schon seit längerem getan hatte. Danach schien Zwetschkenbaum der später widerrufenen Meinung Dr. Josef S. Meyers beizupflichten; denn seine Mienen zeigten Entsetzen. Vielleicht aber kam er gar nicht zu einer abschließenden Verarbeitung des gegenständlichen Falles; denn der nächste Fall war bereits er selber.
Von der adeligen Stimme des Richters angesprochen, stotterte er, sich überstürzend, seinen Familiennamen, so daß dieser wie »Zweenbaum« klang und daher von ihm mehrmals wiederholt werden mußte. Mit Anteilnahme um seine Familienverhältnisse befragt, konnte er sich zitternd nur eines einzigen Bruders entsinnen, eines durchtriebenen und verwegenen Gesellen, vor dem selbst die Gojim Angst hatten, Josef Salomon, derzeit Soldat. Über die Frage, ob alle seine Geschwister so krumm seien wie er, meinte er, besagter Josef Salomon sei ein schöner Mann und sähe einem Juden nicht ähnlich. Die letzten Worte schwächte er übrigens sogleich dahin ab, daß man dies wenigstens so sage. Vielleicht fühlte er sich zu diesem teilweisen Rückzug aus einem nur im Augenblicke abhanden gekommenen Solidaritätsgefühle verpflichtet. Gestehen wollte er überhaupt nichts. Vielmehr begann er plötzlich, sehr redselig zu werden. Er erzählte wiederum, wie er den lieben Gott habe zum Zeugen für die Schönheit von dessen eigener Schöpfung angerufen und wie die Blümelein gedawenet hätten, was auf deutsch »beten« heißt. Den Richter interessierte, ob »Dawenen« vom König David komme, dies wurde aber verneint. Er wollte auch sehen, wie Zwetschkenbaum bete. Dieser meinte, daß er es jetzt nicht könne. Wie ihm die Zwetschken geschmeckt hatten, wollte er auch nicht sagen, weil er sie gar nicht gegessen habe. Der Richter sprach noch lächelnd von einem zwetschkenstehlenden Zwetschkenbaum und forderte schließlich letzteren auf, daß er seine sieben Zwetschken packen solle, eine Anspielung, welche Angeredeter zwar nicht verstand, die aber nichts andres bedeutet, als daß jemand seine geringe Habe zum Zwecke des Abgangs an sich raffen möge, eine wienerische Äußerung, die heute mit Zwetschken nichts mehr gemein hat. Übrigens war die Aufforderung doch wohl nur zu Wortspielzwecken gebraucht worden, denn der Richter konnte nicht daran denken, den Häftling wirklich aus dem Gerichtshause zu entlassen, das ist, in Freiheit zu setzen. Immerhin blieb dem Zwetschkenbaum nunmehr nichts anderes zu tun übrig, als mangels Kenntnis der deutschen Schrift sein in hebräischen Lettern verfertigtes Handzeichen am Schlusse des Protokolls anzubringen, welch letzteres nur eine Bezugnahme auf die vom Ortsgendarmen Johann Schöberl zu den Akten gebrachte Notiz enthielt.
Als Chotek neben die hebräischen Schnörkel des Verdächtigten die säuberlichen deutschen Lettern setzte und daraufhin mit dem richterlichen Löschblatte abtrocknen wollte, fand er auf demselben mit Tinte gemalt einen natürlichen Zwetschkenbaum zur Linken und unter diesem das Konterfei des kleinen gebückten Juden, während zur Rechten in einiger Entfernung davon sich die Silhouette eines Mannes zeigte, der in gleichfalls gebückter Stellung zu einer Türe hinausging. Während Chotek nun einen Augenblick respektvoll zögerte, das Ergebnis der Handfertigkeit seines Vorgesetzten durch dienstliche Verwendung des Stoffes, der ihm zugrunde lag, zu versehren, trug der Gerichtsdiener Riegelsam, ungeachtet der Anwesenheit des Häftlings, das Ergebnis seiner Untersuchungen in Ansehung desselben vor. Dr. Bampanello hörte ihm aufmerksam zu, doch unterließ er es, sich zur Sache zu äußern, geschweige denn, einer zu fassenden Entscheidung vorzugreifen. Er begnügte sich vielmehr, lediglich zu lächeln, und auch bei dieser beherrschten und durchaus nicht eindeutigen Äußerung handelte es sich wahrscheinlich nur um eine unwillkürliche Mundbewegung.
Als aber Zwetschkenbaum in seine Zelle zurückgebracht wurde, befand er sich in einer Verfassung, die das übliche Höchstmaß an Angst bei weitem hinter sich zurückließ. Ja, es hatte fast den Anschein, als fürchte er, Dr. Bampanello werde ihn zum Tode verurteilen, was dieser gar nicht konnte, zumal er im gegebenen Falle und überhaupt nur die Befugnis hatte, eine bis zu sechs Monaten gehende Freiheitsstrafe zu verhängen. Als Riegelsam bei seinem nächtlichen Rundgang die Zellentüre öffnete, um nach dem Häftling zu sehen, fand er diesen nicht nur Fratzen schneidend und die Hände ringend, sondern hörte denselben außerdem immer wieder mit heiserer Stimme feststellen, daß er, also offenbar der Richter, gelacht habe, ja »so« habe er gelacht, wobei Zwetschkenbaum die Gesichtsmuskeln zu einem widerlichen Grinsen verzog, während Baron Bampanello, wie schon festgestellt, nur leicht, beherrscht und angenehm gelächelt hatte. Dem begütigenden Einwand Riegelsams, sich nichts anzutun (welcher nicht etwa einer Aufforderung, nicht Hand an sich zu legen, gleichkommt, sondern lediglich in übertragener Bedeutung besagen will, der so Angeredete möge sich vor Übertreibungen, Mißdeutungen und Entstellungen von Situationen in acht nehmen), antwortete der Häftling, der diesmal übrigens den Aufseher von Anfang an gesehen, als solchen erkannt und die vorhergehenden Worte ausdrücklich an ihn gerichtet hatte, immer wieder mit den krampfhaft vorgebrachten Ausrufen, daß der Richter gelacht und wie er dies getan habe. Und nur das laute Weinen, mit dem er diese unrichtigen Feststellungen begleitete, veranlaßte Riegelsam, die Türe zu schließen, ohne vorher den Zelleninsassen gehörig verwarnt zu haben.
Am Morgen aber beschloß er, nochmals den Gegenstand seiner freiwillig übernommenen Beobachtungen aufzusuchen, wobei er von demselben an seiner Kittelfalte, richtiger an seinem Amtsrocke festgehalten wurde. Überdies fühlte sich der früher scheue und verschlossene Häftling bemüßigt, dem Amtsorgane, das ihm fremd war und ihm bisher keinerlei Zeichen anderen als amtlichen Interesses gezeigt hatte, mit sich überstürzendem Wortschwall eine private Angelegenheit, nämlich eine entsetzliche Erscheinung, also wohl einen bösen Traum zu beschreiben. Ihm sei des Nachts sein Bruder Josef Salomon Zwetschkenbaum erschienen, der schon früher als verwegener, durchtriebener Bursche erwähnt wurde. Dieser nun wäre über ein Schlachtfeld gegangen, wobei er einen Mann hätte liegen gesehen, welcher dem Aussehen nach sein Doppelgänger gewesen sein müsse. In des anscheinend zufolge Ablebens liegenden Mannes Brieftasche habe jetzt der auch sonst zu Gesetzwidrigkeiten neigende Soldat Zwetschkenbaum gegriffen und sich eines Gegenstands bemächtigt, der nach Ansicht des Visionshabenden bloß ein gestempeltes Papier, nach der Meinung des Gefängnisaufsehers wohl eine Banknote gewesen sei. Nach Zurückziehung der Hand mit dem darin befindlichen, durch Leichenraub angeeigneten Gegenstand habe sich Salomon in einen bösen Engel, also offenbar in den Teufel verwandelt. Er habe alles verzehrt. Zwetschkenbaum spricht von der ganzen Welt, kann aber keine Angaben darüber machen, woraus diese Welt bestanden hätte, auf welche Weise, ob mit den Zähnen oder fremden Geräten sie verzehrt worden wäre. Jedenfalls mußte er, Schmul Leib Zwetschkenbaum, übriggeblieben sein, denn der Bruder habe ihm sogar noch die Hand hingestreckt, er aber nicht in dieselbe eingeschlagen; wahrscheinlich, weil er mit der Verzehrung der Welt durch den letzteren nicht einverstanden war, vielleicht auch, weil er an dieser hatte teilnehmen wollen. Zuletzt aber habe Salomon gelacht, »so« habe er gelacht, und der Visionär ahmte die Lache nach, die er am Vortage vergeblich dem Richter zugeschrieben hatte.
Riegelsam ließ sich nicht durch die Bitten des Häftlings, bei ihm zu bleiben, weil er Angst habe, von seiner amtlichen Pflicht abbringen, dem Richter unverzüglich von den neu hinzugekommenen Wahrnehmungen Meldung zu erstatten. Ebendieselben wurden zugleich mit den früher mitgeteilten von Baron Bampanello teils wörtlich, teils nach dem ihnen zukommenden Sinne bis auf die kleinsten Einzelheiten zu Protokoll genommen. Darüber zeigte sich Riegelsam zwar verwundert, doch kann wohl nicht angenommen werden, daß er die Wichtigkeit von Vorkommnissen und Erklärungen in Frage stellen mochte, die er doch selbst angesichts deren Sammlung und Vorbringung für bedeutungsvoll wollte gehalten wissen. Immerhin zögerte er nach Beendigung seines Berichtes und Verabschiedung durch den Richter seinen Abgang noch hinaus, und dabei entschlüpfte ihm eine private Erklärung, die bei ungenügendem Einblick in den Sachverhalt hätte so aufgefaßt werden können, als ob sie dem dienstlichen Berichte, der gesetzmäßig und daher auch zum Nutzen des Häftlings war, Abbruch in seiner Wirkung tun wollte, nämlich die, daß Zwetschkenbaum auch nur ein armer Hund sei. Freilich wurde besagte Erklärung vom Richter gleich als Entgleisung erkannt und bloß durch Mienenspiel beanstandet. Obwohl hier lediglich der Vollständigkeit halber angeführt, gehörte sie nicht zu den Akten und fand füglich auch in diese keinen Eingang.
S. 245 bis S. 25
Die Ausfahrt nahm einen schlechten Anfang. Wie nicht anders zu erwarten war, erwiesen sich die Wagenabteile als überfüllt. Der rundliche Donnensaft und der kantige Zwetschkenbaum wurden im Innern des Zuges hin und her gefegt und nahezu ineinander geschoben. Als neben einem männlichen Kinde ein Eckchen Platz frei wurde, meinte Schmul-Sam, sich dorthin setzen zu sollen, welche Ansicht er auch in großer Hast in die Tat umsetzte. Nicht der Umstand, daß besagtes, übrigens zutunliches Knäblein gleich begann, sich die Schuhe an seiner schon wieder entlehnten Festhose gründlich abzustreifen, sondern vielmehr der Protest der wohlgenährten Mutter, der sich weniger auf ihr eigenes Kind als auf die Person des breiten Zugereisten (Fremdländers) bezog, veranlaßte ihn, sich des kaum erkämpften Platzes so schnell als möglich wieder zu begeben, ja, brachte ihn dermaßen in Verwirrung, daß er sich beinahe unter die Sitze verkrochen hätte, was er glücklicherweise doch unterließ, da er sich sonst durch Behinderung der Zurückziehung von Füßen mindestens zweier Personen doppelt unbeliebt gemacht haben würde. Übrigens hielt der Zug, vielleicht wegen Knappheit und schlechter Mischung des Heizstoffes, alsbald auf offener Strecke an, und als sich Zwetschkenbaum überflüssigerweise vorneigte, um durch das Fenster ins Freie zu sehn, hob sich deutlich, wenn auch nicht in seinen vollen Farben, sondern in winterlicher Dürre, einem Korallenriff gleichend, das aus Meerestiefen vortäuschendem Nebel emporschießt, sein vegetarisches Widerspiel ab, dessen er sich nur ungern erinnerte. Er wußte nicht gleich, ob er diesen Gegenstand anstarren oder sich vor ihm verbergen sollte; doch hatte er sich kaum zu letzterem entschlossen, wozu er vermutlich einige Zeit gebraucht hatte, als die Eisenbahn ruckartig wieder ins Fahren kam. Und gerade an der Stelle, wo Zwetschkenbaum vor dem Anblick des befremdlichen Gehölzes sein Gesicht verstecken wollte, fiel ein schwerer Koffer aus dem Gepäcknetz geradezu auf sein Haupt. Der benommene Schmul griff nach dem frisch erworbenen Tippel (Kleinbeule), während die dicke Kindesmutter, welcher der Koffer gehörte, sich darüber beschwerte, daß es Leute gebe, die an keinem festen Platz ruhig blieben und so fremdes Eigentum zum Herabfallen und zur Beschädigung brächten. Übrigens hätte der Vorfall den Zwetschkenbaum an eine andere Reise erinnern können, die er noch zwangsweise vom bezirksgerichtlichen Arreste nach dem Irrenhaus zurücklegte. Auch damals war er durch ein Fenster des Transportmittels der für ihn unangenehmen Erscheinung seines eingewurzelten Namensbruders ansichtig geworden und hatte kurz darauf eine Verletzung am Körper zu erleiden. Und doch bestanden zwischen den Ereignissen der beiden Fahrten einschneidende Unterschiede, da er seinerzeit bestraft wurde, weil er den Baum bedrohte, jetzt, da er ihn fliehen wollte. Auch hatte er im ersten Falle eine Prellung des Fußes, diesmal aber eine Beule am Hinterhaupt erlitten. Doch ist anzunehmen, daß er das eine wie das andere Mal nicht so sehr der Begebenheit eine weitergehende Bedeutung beimaß, als daß er sich beschädigt fühlte, zumal er offenbar außerstande war, sich im Zustand leiblicher Schmerzen auch noch seelischen Wehgefühlen zuzuwenden. Des ferneren brachte die Fahrt noch ein weiteres peinliches Erlebnis mit sich. Nahe vor dem Ankunftsbahnhof vermißte Donnensaft plötzlich seinen Hut, den er zur Bedeckung der Blöße seines Hauptes, oder auch um rituellen Forderungen zu genügen, immer aufzuhaben pflegte. Wie er um denselben kam, ob ihn ein Luftzug entführt, ob ihn jemand von seinem Kopfe unbemerkt zum Dauergruße abgehoben oder ob sein Mindestausmaß an oberem Schutz gegen Sonne und Wetter im Gedränge fortgestreift und bis zur Unkenntlichkeit zertreten wurde, dieweil Meschulim seinerseits im Stehen schlief, darüber fand sich keinerlei Aufschlußmöglichkeit. Immerhin verlangsamte er und mit ihm auch Zwetschkenbaum das Tempo beim Aussteigen, um den Hut noch im Wagenabteil aufzufinden. Sie erreichten zwar das Gesuchte nicht, doch kamen sie durch Zeitversäumnis als die letzten auf den Perron, so daß der die Fahrkarten Kontrollierende genügend Muße hatte, ihnen die ihren abzufordern, die Donnensaft nicht fand, weil er sie vielleicht neben statt in die Tasche gesteckt. So mußten sie sich auf ihre Einwände die Bemerkung gefallen lassen, daß man solche Praktiken schon kenne, und überdies die Fahrt noch einmal und dazu Strafe bezahlen, doch wurden sie in ihrer Selbstgenugtuung durch verspätete Auffindung der unnütz und ungültig gewordenen Billette wenige Tage darauf entschädigt
So langte man einerseits mit Verzögerung, andererseits peinlich verärgert in der deutsch-österreichischen Hauptstadt an, die Donnensaft nicht sehr häufig, Zwetschkenbaum noch gar nicht gesehen hatte. Immerhin schien der Eindruck des letzteren von der steingemeißelten und lehmgebrannten Natur kein so freudiger zu sein wie von jener, die aus Grashalmen und Flattererflügeln bestand und in der die strafbaren Tatbestände in Gestalt von Baumfrüchten einem geradezu ins Maul wuchsen. Über die Straße lief er mit animalischer Behendigkeit, wobei er entweder Donnensaft mit in Gefahr zog oder sich von diesem losriß. Übrigens bewirkten hier Ermahnungen gleich das Hervorkehren gegenteiliger Ergebnisse, indem für früher geübte Überstürztheit Platzangst in die Bresche sprang, wenn die Bahn für Fußgänger freigegeben war. Schließlich aber kam man doch zu dem Hause, in dem Herr Klaus Keller wohnen sollte. Und während sich Donnensaft in ein nahe gelegenes Kaffeehaus zum Abwarten der Rückkunft des andern begab und dieses Lokal im Vorbeigehen vorher schon deutlichst bezeichnet hatte, lenkte der traurige Schmul-Sam seine Schritte Keller-wärts.
Die Zeit, die nunmehr verlief, bis Zwetschkenbaum wieder zum Onkel der ihm zugedachten Braut gelangte, war sicherlich reich an inneren Erlebnissen, die sich jedoch nicht in greifbarer Form auch äußerlich bemerkbar machten. Gebückter als sonst stellte er die paar tausend Jahre ägyptischer Knechtschaft, Vertreibungen, Ghettoverschließungen, Verbrennungen, Metzeleien seines Stammes, zuzüglich alldem, was noch im Laufe kommender Zeiten an Überbelastung hinzukommen konnte, sowie auch nebst seinem höchstpersönlichen bescheideneren Lose zur Schau. Die Hausmeisterin alias Pförtnersfrau, die im Flur des Gebäudes stand, begrüßte er zwar ehrerbietig, doch fragte er sie nichts. Vermutlich besaß er nicht den Mut dazu. Der Aufzug, der für die Beförderung seiner Person bereitgestanden wäre, wurde von ihm gleichfalls außer acht gelassen, sei es, weil er dessen Betrieb nicht kannte oder diesem nicht traute, sei es, weil er fürchtete, sich unnütze Auslagen aufzubürden, oder sei es endlich, daß er genannte Vorrichtung gar nicht wahrgenommen oder doch nicht entsprechend gewürdigt hatte oder ohnehin nur in den zweiten Stock wollte. Als er sich an Ort und Stelle glaubte, besah er die Türe, vielleicht nach einer Aufschrift suchend, die er aber wahrscheinlich nicht fand, vielleicht auch, weil es eine schöne Türe war, wie sie nicht alle Tage vorkommt, vielleicht endlich, weil er noch Atem schöpfen wollte, bevor er gedachte, sich bemerkbar zu machen. Endlich aber war es soweit, und seine Hand zitterte, als er sie zur elektrischen Klingel führte, und sein ganzer Körper zitterte, als er innen ein Glockenzeichen hörte, das so schrill und so stark war, daß er es möglicherweise gar nicht als das Ergebnis seines Druckes auf den Knopf wiedererkannte. Und es kam wahrscheinlich noch eine schwere Minute für ihn, als er den Atem zurückbehielt und vermutlich sein gut genähtes Herz in Nachahmung der Klingel innen, wenn auch zart zu läuten begann, bis zu dem Zeitpunkt, an dem er glaubte, aus der Wohnung Schritte zu hören, und erwartete, daß ihm nunmehr geöffnet werde. Und als ihm diese Schritte zum innerlichen Gehör kamen, da begann er mit dem Kopfe hin und her zu wackeln, aber in der Richtung von rückwärts nach vorne und von vorne nach rückwärts, wie man es beim Beten tut, um sich vor seinem Schöpfer zu verneigen. Wahrscheinlich verneigte er sich gar nicht, zumindest nicht wissentlich vor seinem Schöpfer, sondern führte die Bewegung unwillkürlich aus. Aber die Schritte, die er glaubte gehört zu haben, die gingen immer weiter und mußten schon über ihn hinweggegangen sein, und doch hatte niemand die Tür geöffnet. Aber Zwetschkenbaum lag auf dem Boden des Ganges vor der Türe, wohin er entweder gefallen war oder wohin ihn die geheimnisvollen Schritte niedergetreten hatten. Trotzdem sah er keinen Menschen, hörte auch keinen Menschen, fühlte selbst keinen Menschen, wenn man dem Glauben schenken darf, was er nachträglich sagte. Auch die Schritte waren endlich nicht mehr da. Schmul-Sam machte alle Anstrengungen, sich zu erheben, was ihm zuletzt auch gelang. Er wäre sicherlich gerne weggegangen, aber er ging nicht weg, sondern blieb vor der Türe stehen in Erwartung, daß ihm doch jemand öffnen werde. Aber er läutete nicht mehr, und es öffnete auch niemand.
An den Rückweg zum Kaffeehaus, in welchem Donnensaft saß, erinnerte er sich nicht. Sein hier zurückgelassener Begleiter meinte, Schmul-Sam wäre sehr lange ausgeblieben; er habe zwar nicht auf die Uhr geschaut, doch müßten es gute zwei Stunden gewesen sein. Er hoffe, daß alles gut geklappt habe. Aber Zwetschkenbaum bejahte weder noch widersprach er. Er sprach nur von einer Türe, von einer Glocke und von Schritten. Zweifellos fragte sich Donnensaft in diesem Augenblick, ob nicht doch etwa in dem einen oder dem andern ärztlichen Gutachten, betreffend diesen Mann, ein ziemlicher Gehalt an Wahrheit inbegriffen wäre und ob er sohin richtig handelte, sofern er solchem Etwas seiner Nichte Zukunft anvertraute. Jedenfalls stärkte er sein schreckhaftes Gegenüber durch eine frisch bestellte Tasse Tee und trat dann mit ihm zusammen den Rückweg an, ohne auf das Thema wieder anzuspielen, das doch den einzigen Anlaß zu ihrer Fahrt gegeben hatte. Der Rücktransport gestaltete sich zwar nicht angenehmer, als die Hinreise gewesen war, dauerte sogar noch länger und erfolgte bei noch größerem Andrang. Doch waren beide zufrieden, durch Heimkehr einen Ausflug zu beenden, mit dem sie so wichtige Zwecke verbanden und der doch zu nichts geführt hatte.
Aber auch dies gilt nicht unbedingt. Was nämlich Schmul, beziehungsweise den neuen Sam, anlangte, so hatte vielleicht das Erlebnis auf dem Gange des Hauses genügt, um in ihm den Eindruck zu erwecken, daß es mit dem fraglichen Herrn Keller nicht richtig zugehe und wohl auch dasselbe für die von diesem eingesandten Gelder gelten müsse. Möglicherweise empfand er daher auch die sogenannte Heimkehr nicht mehr voll als solche. Es ist übrigens auch nicht ausgeschlossen, daß er zunächst den Herrn Keller noch nicht mit dem Begriffe des Geldes verband und annahm, daß das letztere nicht stinke, auch wenn der Geruch des ersteren ein zweifelhafter wäre. Wie dem auch sei, ein greifbares Sofortergebnis hatte offenbar die Reise. Am nächsten Tage erklärte Donnensaft kurz und ernst dem Sam, daß seine Nichte leider unpäßlich (also wohl erkrankt) sei, daß daher ein Unterricht bis auf weiteres nicht mehr in Frage komme und man dem Sam sagen würde, wann er wieder antreten solle. Zwetschkenbaum zeigte sich weder erschreckt noch erstaunt, wünschte weder für Herminen baldige Besserung, noch erkundigte er sich in der Folge nach ihr oder der Wiederaufnahme des Unterrichts, ebensowenig wie er sich auch darum bewarb, wieder eingeladen zu werden. Und er wurde dies von nun ab nicht mehr. Wie Hermine die Nachricht von dem Zustand des von ihr zum Gatten in Aussicht Genommenen ertrug, ob und welche Kämpfe es sie gekostet hatte, auf ihn zu verzichten, darüber wurde geschwiegen. Jedenfalls dankte sie ihm nur mit einem leichten Nicken, wenn er ihr auf der Straße begegnete, und Gespräche zwischen beiden unterblieben fürderhin vollends.
So hatte Zwetschkenbaum die Freiheit der Entschließung wiedergewonnen, doch kam er scheinbar noch zu keinem Entschluß. Die nächsten Tage verliefen für ihn, aus seiner mangelnden Beweglichkeit zu folgern, wie unter einem Alpdruck; denn er wies eine auch für ihn bemerkenswerte Starre der Glieder auf, wie sie sonst höchstens lustwandelnden Toten nachgesagt wird. Träume hatte er keine, denn diese wurden wohl von besagtem Alp vorgeburtlich erdrückt. Dennoch war er ebensowenig wach, und seine Botengänge für die Firma Spennadl &Co. erwiesen sich, als für dieselbe verlustreich statt gewinnbringend. Er lieferte die Ware am verfehlten Platz, versäumte es, Zahlung zu verlangen, wo Sofortbegleichung geboten war, vertauschte Gegenstände, deren Verwechslung für die Firma deshalb peinlich schien, weil dort, wo schlecht geliefert werden sollte, freigebig erstklassige (Prima-)Ware abgegeben wurde, wo aber die Kundschaft ausnahmsweise zum besten bedient werden sollte, der Plunder hinterlegt worden war. Somit ergab sich mancher Kassenabgang, unangenehme Auftritte und Bezieherverlust. Auch im Laden selbst bewährte er sich nicht, bot zu höchsten Preisen aus, was schnell weggebracht werden mußte, und ließ den Kauflustigen gehn, ohne ihm irgendwie zugesprochen zu haben. Die Zierde der Schaufenster aber, die nur zu Anlockungszwecken vorhanden war, verschleuderte er für einen Pappenstiel. Es war daher wenig verwunderlich, daß der Seniorchef Spennadl ihn zornig tadelte, als er nach und nach allen Schaden des Tages gewahr wurde, und es fehlte nicht viel, so hätte er ihn nicht nur des Dienstes, sondern auch der Verpflegung und Herberge enthoben, wenn nicht Herr Keller gewesen wäre, der für ihn aufkam.
So sehr es erstaunlich war, daß lediglich die Tatsache, eine Person an einem Vormittage nicht angetroffen zu haben, mit der er übrigens keinerlei Verabredung hatte, zu solcher Wandlung Zwetschkenbaums führte, daß er all das, was durch lange Mühewaltung an ihm verbessert worden, mit einem Male nachlässig abstreifte, so wäre es hinwiederum nicht minder bemerkenswert gewesen, wenn der Onkel eines unbedingt auf Heirat eines bestimmten Partners gesonnenen Mädchens für diese nur deshalb sich zum Verzicht entschied, weil er ein einziges Mal Störungen in den Gedankengängen des Heiratswerbers feststellte, die vielleicht doch am Ende nicht in einer Dauerverwirrung des Gehirnes desselben ihre Ursache hatten. Was Schmul-Sam betrifft, so konnte allerdings sonst kein passender Grund für seine neue Einstellung gefunden werden. Die Wandlung Donnensafts in bezug auf dessen Nichte dürfte aber noch ein anderer, zwingenderer Anlaß ausgelöst haben. Als nämlich des Abends Meschulim, müde von seiner Weihnachtsreise, sich auf sein Sofa zurechtsetzte, erschien bei ihm Eisig Spennadl und verlangte eine Unterredung unter vier Augen, die er auch sogleich erhielt. Nach Beendigung dieses Kopf-an-Kopfes sah Donnensaft im geistigen Ringkampf überwunden aus. Er erklärte seiner Gattin, das Interesse des Geschäftes verlange es ebenso wie die Ehre der Familie, daß man auf weitere private Zusammenkünfte, schon gar auf darüber hinausgehende Verbindungen mit Schmul Leib Zwetschkenbaum Verzicht leiste. Das waren alle Aufklärungen, die der alte Meschulim an dieser Stelle gab. Was die Nichte betraf, nahm er offenbar auf eine geheimnisvolle Erkrankung Schmuls Bezug, und sie war anscheinend schließlich doch ein verständiges Mädchen, das gehorchte, wo es das Interesse des Hauses erforderte. Es ist aber auch möglich, daß er ihr sagte, daß Schmul sie hartnäckig ausgeschlagen habe. Jedenfalls hatte sie für den letzteren in Hinkunft nichts anderes übrig als Verachtung.
S. 303 bis S. 310
Die Geschichte des mittellosen, osteuropäischen Juden Schmul Leib Zwetschkenbaum aus dem ostgalizischen Brody, der wegen Zwetschkendiebstahls verhaftet wird, spielt am Ende der Habsburgermonarchie und zieht sich bis in die erste österreichische Republik der zwanziger Jahre. Der 24-jährige Zwetschkenbaum kommt ins Gefängnis, obwohl nicht ganz klar ist, ob er den Diebstahl überhaupt begangen hat und ob er, wenn er ihn denn begangen hätte, überhaupt vor Gericht dafür verantwortlich gemacht werden kann, weil bis zuletzt offenbleibt, wie der Geisteszustand des chassidischen Juden, der nur hebräisch lesen und schreiben kann, zu beurteilen ist. Wie dem »ewigen Juden« in der nationalsozialistischen Propaganda wird ihm einfach die Schuld aufgeladen: »[…] den Zwetschkenbaum hätte niemand für so böse gehalten; aber einer müsse es ja gewesen sein […]« (S.98)
Die ihn untersuchenden Ärzte und beurteilenden Richter stufen ihn höchst unterschiedlich ein. Manche sehen in ihm einen raffinierten Dieb, der sich als Narr verstellt, um dem Gefängnis zu entgehen. Andere wiederum erkennen in ihm einen unheilbaren Geisteskranken. Als weitere Deutungsmöglichkeiten werden von den Medizinern ein nicht verarbeitetes Trauma Zwetschkenbaums und seine rassische Unterlegenheit ins Spiel gebracht: »Die untersuchte, im Rudimentären steckengebliebene Kreatur weise symptomatisch und symbolisch für eine größere Gemeinschaft schon einen Urfall von sittlichem Irresein (moral insanitiy) auf.« (S. 25)
Zufällige Fakten schließen Justizbeamte schnell und willkürlich zu Indizienketten zusammen und verwenden sie dann als scheinbar objektive Tatsachen gegen Zwetschkenbaum. Das Vorhandensein von Zwetschkenkernen, die praktisch jedermann hätte ausspucken können, wird zynisch gegen Zwetschkenbaum gewendet, weil er schwach ist und sich nicht wehrt. Den damit verbundenen juristischen Folgen wird der vermutlich Unschuldige wehrlos ausgesetzt. Selbst wenn er Zwetschken gestohlen hätte, wäre die Tat ein Bagatelldelikt und würde den dargestellten juristischen Aufwand nicht lohnen. Was für den Leser die ironische Decouvrierung einer menschenverachtenden Bürokratie ist, bedeutet für Zwetschkenbaum die lebensbedrohende Zuspitzung seiner Verhältnisse.
Zwetschkenbaum wird vom Arresthaus ins Gefängnis und anschließend ins »Narrenhaus« abgeschoben. Er wird von Mitinsassen fast umgebracht. Kommt ins Spital und wieder ins Gefängnis, nachdem er sich, ohne es zu wissen, als Hehler betätigt und im Spital vielleicht ein Feuer gelegt hat. Drachs Schreibart besteht darin, daß er einen ernsten Sachverhalt mit einer komischen, ironischen und zynischen Sprache darstellt. Die lapidare Nüchternheit des Humors schafft Distanz zum Leser. Die folgende Szene ist der Beginn einer Vergewaltigung, an deren Ende der Brand im Spital steht:
»Sie stellte sich in Positur, nun höchst aufgebracht zu protestieren, wurde aber an letzterem behindert, da der sonstige Verteidiger sie auf dem Bett des Zwetschkenbaum zur Strecke brachte, indem er ihre zum Zwecke des Protestes gespreizt gebliebene Stellung zur Fortsetzung des Werkes seines Vorgängers weitgehendst ausnützte. Bei der gewaltsamen Zurückschiebung von Schürze und Rock glitten sowohl ein Schlüsselbund als auch ein Paket Streichhölzer und eine Zeitung, die sich alle drei im Schürzensack befanden, von diesem aufs Bett und fielen von dort zu Boden.« (S. 67)
Nebensächliches wie der Schlüssel und die Zeitung werden wichtiger genommen als die Vergewaltigung. Das sorgt für eine deformierte Optik. Es ist eine heillose wie irrwitzige Odyssee eines Menschen, der den Verhältnissen hilflos ausgeliefert ist, weil er nicht weiß, wie ihm geschieht und warum es ihm angetan wird. Er ist ein Opfer, das von den anderen Romanfiguren zum Dieb, Betrüger und Brandstifter gemacht wird. Am Ende wird entschieden, weil eine Entscheidung getroffen werden muß und ohne daß der Entscheider sich genau die Mühe gemacht hat, ob seine Argumente logisch zusammenpassen oder ob sie nicht doch eine Sammlung von Vorurteilen sind. Zwetschkenbaum ist den Vorurteilen und der Mißgunst seiner Mitmenschen sowie der Gerichtsmaschinerie hilflos ausgesetzt. Es ist eine unversöhnliche Inszenierung und Konfrontation von unschuldigem »Ich« und zynischer Welt. Da gibt es keinen Platz für Moral oder Vernunft.2 Auch diejenigen, die ihm helfen wollen, machen es nicht wirklich, sie sorgen nur dafür, daß es ihm noch schlechter geht. (S.178ff.) Die antisemitische Grundhaltung der Romanfiguren ändert sich auch in der österreichischen Republik nach 1918 nicht, zumindest stellt es Drach im Zwetschkenbaum so dar. Der chassidische Jude wird mit allen Formen des Antisemitismus konfrontiert. Ihm und dem jüdischen Volk wird gesellschaftliche Zersetzung, ökonomische Raffgier, Geilheit, mangelndes Rechtsbewußtsein und fehlendes Verantwortungsgefühl unterstellt. Juden werden als »Saujuden«, Verbrecher und Rechtsverdreher denunziert. Selbst geistig Behinderte, Kinderschänder und Vergewaltiger sind offen antisemitisch, als sie gemeinsam in den Spottvers einstimmen: »Jud, Jud, spuck in den Hut! Sag der Mama, das war gut!« (S. 31)
Aus Bequemlichkeit und Gedankenlosigkeit wird ein Schuldiger gesucht. Die Wahl fällt auf denjenigen, der keine Freunde hat und zu dem die Vorurteile passen – auf den chassidischen Juden Zwetschkenbaum, der durch seinen Glauben und seine Herkunft Außenseiter ist und auch stellvertretend für das jüdische Volk steht. (S. 248) Der Antisemitismus ist im Grunde der einzige gemeinsame Nenner des Romanpersonals und er darf ungestraft vertreten werden:
»Ja, zur Veranschaulichung desselben [Spottverses] näherten sie sich dem so Angeredeten [Zwetschkenbaum] auf weniger als einen Schritt Abstand und spieen ihm abwechselnd ins Gesicht oder auch bloß auf den Mantel. Und nur der Glasermeister, der sich nunmehr vollends erhoben und notdürftig bekleidet das Bett verlassen hatte, kam auf den bildhaften Einfall, dem Juden die Kopfbedeckung, die dieser aus religiösen Gründen auch im Zimmer aufbehielt, vom Haupte abzuheben und in dieselbe mit seiner Speichelflüssigkeit zu zielen, gleichsam um ihn durch die Beispielgebung zu unterweisen, wie er sich nach dem Spruche benehmen sollte.« (S. 31f.)
Auch ein Dieb darf sich aufgrund seiner antisemitischen Einstellung über Zwetschkenbaum erheben:
»Er habe sich als weißer, arischer, das ist indogermanischer Mann verletzt gefühlt […]« (S. 101) Sogar Rabbiner und assimilierte Wiener Juden lehnen den Ostjuden Zwetschkenbaum ab und übernehmen antisemitische Ressentiments. (S. 81ff., 187f. und 212f.) Die rassistisch begründete Ablehnung des hilflosen Zwetschkenbaum macht im Roman natürlich auch vor den höheren Chargen nicht halt. Über die Einstellung von Richter Dr. Ludwig Schönbein, der ein erstes Urteil im Fall Zwetschkenbaum fällen soll, heißt es:
»Mit andern Worten, Jude sein sei nicht nur ein dumpfer Zustand, sondern die Verirrung in eine nirgends einmündende Gasse, aber doch mit jener Verstockheit, mit welcher sich der Irrgegangene einen Zustand vortäusche, der selbst seinen eigenen Erkenntnissen und Erfahrungen nicht mehr entspreche.« (S. 80)
Die Einhaltung von Riten und Moralgesetzen würde bei den Juden nur dazu dienen, an der eigenen Auserwähltheit festzuhalten. Schönbein spricht den Juden aus rassischen Gründen die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Integration und Assimilation ab. Auch eine Taufe könne daran nichts ändern. Damit verkörpert der Richter fast thesenhaft die antisemitische Einstellung von Nationalsozialisten.
Am Ende des Buches schließt sich der Kreis für Zwetschkenbaum, denn er wird erneut wegen Zwetschkendiebstahls verhaftet. Aus dem Kreislauf von Verdächtigungen, Demütigungen und Strafen gibt es für ihn kein Entkommen.
Noch 1947 war das Manuskript von der Wiener Verlegerin Dr. Ilse Luckmann mit der Begründung abgelehnt worden, daß die Zeit noch nicht reif sei für ein Buch, in dem ein Jude gut wegkomme.3 Diese Einschätzung ist natürlich ein Euphemismus, denn der Chasside muß nach seiner zweiten Festnahme erneut die Tour durch Gefängnisse, Narrenanstalten und Spitäler antreten. »Gut wegkommen« sieht anders aus. Bei aller Kritik, die man gegenüber der antisemitischen Haltung dieser Verlegerin äußern muß, hat Luckmann doch erkannt, daß ihr Verlag die Geschichte eines Juden, der beim Leser keine Sympathien weckt, wohl aber die antisemitischen Einstellungen und Prägungen aller Handelnden kurz nach der größten Judenverfolgung aller Zeiten zum Thema macht, nicht herauszugeben braucht, weil die Mehrheit der Bevölkerung über ein vergleichbares Weltbild wie das von Drach dargestellte verfügte: Der gequälte und gedemütigte Zwetschkenbaum läßt die Erbärmlichkeit und Dummheit der Antisemiten nur noch deutlicher hervortreten. Es mag eine Spekulation sein: Den Zwetschkenbaum hätten 1947 tatsächlich wohl nur wenige Neugierige lesen wollen. Aus einer ökonomisch geprägten Verlegerperspektive dürfte Luckmann recht gehabt haben. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist der von den Nationalsozialisten forcierte Antisemitismus nicht verschwunden.
Insgesamt sechzehn Ablehnungsschreiben will Drach zum Großen Protokoll gegen Zwetschkenbaum bis 1964 erhalten haben. Daß das Buch dann auf eine so große Resonanz im Literaturbetrieb gestoßen ist, hat aber wohl eher mit einer Fehldeutung des Sprachstils zu tun. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, wird das Protokoll, wie Drach seinen Roman nennt, als Odyssee, die in einem altösterreichischen Kanzleistil geschrieben ist, gelobt.4 Die Schärfe des Humors, die auf die Spitze getriebene Ironie und die Hoffnungslosigkeit der desaströsen Lebensgeschichte werden meistens nicht angemessen berücksichtigt. Mit der radikalen Darstellungsform tun sich die Rezensenten schwer, auch wenn sie alle auf den einzigartigen Schreibstil Drachs hinweisen. Gerne rücken sie ihn in die Nähe von Fritz von Herzmanovsky-Orlando, dessen Werke in einer von Friedrich Torberg zurechtgestutzten Fassung wenige Jahre vorher erschienen waren und großen Erfolg hatten.5 Torberg tilgte alle politischen Anspielungen bei Herzmanovsky-Orlando. Drachs Protokoll wird interpretatorisch ebenfalls verharmlost, indem man es als altösterreichisches Relikt abtut, um den Inhalt genießbar zu machen. In der historischen Rückschau kann man aus heutiger Sicht nicht mehr nachvollziehen, warum der authentische Text von Herzmanovsky-Orlando den Lesern in den 1960er Jahren nicht zugemutet werden konnte. Offenbar war dieser parodistische Schreibstil zu eigenwillig und zu avantgardistisch. Den Lesern wurde das Original jedenfalls lange Zeit vorenthalten.
Hilflos wirkt die immer wieder mit Drach in Zusammenhang gebrachte Formulierung, daß einem beim Lesen das Lachen im Halse steckenbleibe. Als ob Bücher normalerweise laut vorgelesen werden. Auch wird mit solchen Formulierungen die Leistung einer humoristischen Darstellungsform nicht einmal im Ansatz erfaßt. Es geht doch nicht um das Erzählen von Witzen, sondern um die provokative Gegensinnigkeit von komischer Sprache und verzweifelter Situation, die sich nicht mit einem Lachen auflösen läßt!
2 André Fischer: Der Zynismus ist ein Anwendungsfall der Ironie – zum Humor bei Albert Drach. In: Albert Drach. Dossier 8. Hrsg. von Gerhard Fuchs und Günther A. Höfler. Graz/Wien: Droschl 1995, S. 36.
3 Schobel, S. 433
4 Eine sehr gute Übersicht findet sich bei Schobel, S. 458ff.
5 Vgl. Michael Rohrwasser: Stachel der Lektüre: Das Große Protokoll gegen Zwetschkenbaum. In: Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945. Hrsg. von Klaus Kastberger und Kurt Neumann. Wien: Zsolnay 2007 (= Profile Bd. 14, S. 241f.).