Reinhard Schulte
Vom Gott bis zum Wurstel oder Warum ist Drach so schwer zu spielen
I.
Es ist der Tagung Abend, und ich versuche aus dem, was ich gestern und heute gehört und gesehen habe, mir vorzustellen, was man vielleicht noch hinzufügen sollte oder wo mir selber eine Frage offen verblieben ist, die ich Ihnen antragen und zu der ich ein bißchen extemporieren könnte. Wissen wir jetzt eigentlich, warum dieses Werk, das doch nach Ihrer wahrscheinlich sich bildenden, wenn nicht schon gefestigten Überzeugung zu den großen, erlauben Sie mir den Ausdruck: genialen, Werken der Literatur deutscher Sprache in diesem Jahrhundert gehört, eingeschlossen das dramatische Werk, das innerhalb des Œuvres eine eigentümlich potenzierte Außenseiterrolle spielt – warum dieses große Werk in der Weise in Ihrer von mir so gemochten Stadt Wien vorkommt, daß, wenn man gestern gestärkt vom Weihnachtsmarkt dem Burgtheater gegenübertrat, oberhalb der großen Portale das weiße Segel mit der Aufschrift „Kasimir und Karoline von Odön von Horväth“ schwebte und einige Meter daneben erst über dem schlichteren Seiteneingang, immerhin nicht dem Hintereingang, das kleinere mit der Aufschrift „Albert Drachs Verwandlungen“, während ich doch voraussetzen würde, daß Ihr Bewußtsein von der respektiven Relevanz dieser dramatischen Werke das umgekehrte Verhältnis der Tücher und Portale rechtfertigen würde. Ich hatte vorgestern mit einem Oberportier über den Erwerb eines Plakats zur gestrigen Soiree im Vestibül verhandelt und die beruhigende Auskunft erhalten, das mache keine Schwierigkeit, eine Wiederholung werde es nicht geben. Wissen wir, warum das so ist?
Entschuldigen Sie, wenn ich schüchtern polemisiere. Unter den Stücken, die ja nur zur Hälfte jemals gedruckt wurden und derzeit im Buchhandel überhaupt nicht erhältlich sind und die mit wenigen Ausnahmen nicht aufgeführt werden, und wenn nur von zweiten und dritten Bühnen und dann nur von zweiten und dritten oder drei, bei denen man interpretatorisch sich einhängt und sicher fühlt, obwohl die Interpretation über einen bestimmten Punkt nie hinausgelangt. Kommt eine Aufführung zustande, muß der etwas Kundigere doch sagen: das ist es nicht, der Erfolg stellt sich nicht ein, und Drach ist auf dem Theater wieder einmal nicht erschienen. Wohl erschien er unter Umständen persönlich, indem er in einer solchen Veranstaltung sich erhob, was er nun nicht mehr tun kann, und in einem mündlichen Essay formulierte, was sagen wir vom Theater in Österreich zu halten sei, und sich wieder setzte. Ein solcher improvisierter Auftritt Drachs ist unter Umständen wirksamer und verstörender und in seinem Sinn wirklicher gewesen als unsere Bemühungen um immer wieder dieselben Stücke bei mittlerweile Konvention gewordenen Resultaten, aufgrund deren man nicht sagen kann, warum das auf der Bühne nichts wird beziehungsweise warum das die Dramaturgen, Regisseure, Schauspieler ungeduldig liegenlassen. Das ist aber, sollte man dem Teufel bereits irrevokabel die Hand gereicht haben, eine dringliche Frage, denn wirken will man dies Werk sehen, und auf die Bühne gehört es. Drach, um nur eben zu rekapitulieren, hat, wenn er sich nach seinen dramatischen Kollegen deutscher Sprache umgesehen bat, im neunzehnten Jahrhundert Grabbe und Büchner gesehen, am Anfang des zwanzigsten eine Generation zurück Wedekind, neben sich Brecht, an dem er sich gemessen hat und von dem er wohl sicher war, daß eines Tages umgekehrt Brecht an ihm gemessen werden würde oder jedenfalls mit ihm verglichen. Die Referenzen, die dies Werk zu den nicht deutschsprachigen Dramatikern der Weltliteratur unterhält, sind furchteinflößend. Drach war ein Autor, der selbstverständlich kein Plagiat beging, aber auch Verfahrensweisen der Collage, des Zitats nicht verwendete. Kryptomnestische Spuren gibt es zuhauf, doch kein bewußtes Operieren mit Materialien fremder Texte. Stattdessen sind fast alle Stücke Drachs - ihre Zahl ist siebenundzwanzig, und alle wollen gedruckt und aufgeführt sein – so in die Nähe jeweils eines großen fremden Werks gebaut, daß diese schier brenzlig wird. Das ist ein Risiko, das Drach lag und das er zunächst dem eigenenWerk zudachte, insofern es den höchsten Vergleich zwingend herausfordert, das aber auch für das in dieser Weise angegangene, um nicht zu sagen angegriffene fremde Werk jedenfalls nach Drachs Phantasie bedrohlich ist.
Der von Drach angezettelte Agon läßt ihn selbst so wenig wie den unfreiwilligen Gegner in Ruhe. Seine Pechelse muß sich in der Nachbarschaft der Antigone behaupten. Ich kann nicht alle durchgehen. Drach hat, auf der Höhe seines Könnens und seiner dichterischen Kraft, aufgrund einer Fernsehübertragung, wenn ich richtig vermute, Becketts „Warten auf Godot“, lassen Sie es mich drastisch ausdrücken: gefressen und wieder ausgewürgt, dergestalt daß es nun ein anderes Warten auf Godot gibt, das Trittabschlagen. Der Sachverhalt ist so brisant, daß, wenn man einmal Drachs Oratorium ohne Musik ernstlich bei sich Zutritt verschafft hat, so daß es einen innerlich besetzt, eine unbefangene Wahrnehmung von Becketts Stück, wie wenn nichts gewesen wäre, kaum mehr möglich ist. Drach eignet eine Gewalt des aggressiven Zufahrens auf kulturelle Gebilde, die diese nicht unberührt und gegebenenfalls durchaus beeinträchtigt zurückläßt.
Diejenigen unter Ihnen, die gestern abend im Vestibül der Lesung aus ungedruckten und unaufgeführten Stücken zuhörten, haben darunter eines im Ausschnitt auf sich wirken lassen können, Das Fleisch des anderen, das ein Gegenstück zu Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ ist, Gegenstück auch im polemischen Sinn. Wahrscheinlich seit der Emigration als Idee vorhanden, ist es in den siebziger Jahren rasch wie bei Drach die Regel, das heißt innerhalb weniger Tage, niedergeschrieben worden, jedoch über einen Zeitraum von Jahren hinweg mehrmals, in verbesserten Fassungen. Sie haben mit angehört die hochaggressiv gespannte Auseinandersetzung zwischen einem jüdischen Kaufmann und einem christlichen, wobei der christliche mit großer Gemeinheit die Behauptung, dessen Tochter vergewaltigt zu haben, die im Raum anwesend ist, gegen deren Widerspruch verficht, um das Vertrauen des Vaters in das Wort seiner Tochter zu zerstören. Tatsächlich hat er, wie ein Zuschauer des ersten Akts wüsste – was Sie hörten, war die erste Hälfte des zweiten – einen Vergewaltigungsversuch unternommen, der an der Kühnheit der Tochter gescheitert ist, die nun der Düpierte eine Hure nennt, die sich aus freien Stücken dreizehn Männern hingegeben habe. Diese Beleidigung im Verein mit der Veruntreuung des ihm auf eine Handelsfahrt mitgegebenen Vermögens des jüdischen Kaufmanns provoziert diesen so, daß es in einer Eskalation gegenseitig angedrohter Sanktionen zu einer Wette kommt, bei der es stellvertretend um den Beweis der im Augenblick nicht nachprüfbaren Behauptung geht, daß das anvertraute Vermögen durch eine Revolution in Südamerika entwertet und vernichtet wurde – statt um den Beweis der Unschuld der Tochter, den zum Gegenstand einer Wette zu machen der Stolz des Vaters verbietet. Der Einsatz ist eine hohe Summe von seiten des christlichen Kaufmanns, von seiten des jüdischen, da er, sollte die Behauptung dereinst bewiesen werden, schon jetzt ein armer Mann wäre, ein Pfund Fleisch seines eigenen Körpers. (Zu beachten: es handelt sich, anders als bei Shakespeare, um eine Wette, nicht um eine Bürgschaft, und um das Fleisch nicht des einen, sondern „des anderen“.) Bei der Auseinandersetzung zugegen sind außerdem die über den wirklichen Hergang zwischen der Tochter und dem christlichen Kaufmann noch weniger als ihr Mann ins Bild gesetzte Mutter, die mehr sieht als alle anderen, sowie die Tochter, die sich dem Vater zuvor andeutungsweise offenbart hat, so daß dieser ein ungesichertes Vertrauen gegen sich aufdrängende Zweifel verteidigen muß. Die ausgezeichneten Sprecher des jüdischen und des christlichen Kaufmanns haben die extreme Gewaltspannung selbstverständlich richtig erfaßt und wiedergegeben. Aber dann unterlief dem einen ein faux pas. Der christliche Kaufmann hatte den finanziellen Einsatz noch einmal erhöhen müssen, und sein Interpret brach in die Worte aus: „Teures Judenfleisch, etcetera, etcetera.“ Nur die beiden ersten Worte sind, versteht sich, von Drach. Der Schauspieler fiel sich, vermutlich an der bei den Proben vereinbarten Stelle, ins Wort und gab mit einem Rest der Wut, die er darzustellen hatte, dem Gefühl Ausdruck, an der Grenze des Zumutbaren angelangt zu sein. Alle, Regisseur, Ensemble und Publikum, wären aber erst recht entgeistert gewesen, hätten sie gewußt, was eigentlich an dieser Stelle zu zeigen gewesen wäre. Monochrome Darstellungen aggressiver Entladung ermüden und sind wenig lehrreich. Drach hat reine Gewaltszenen, wenn sie denn zu schreiben waren wie am Anfang des Stücks Das I, in einer halben Seite abgemacht, er wußte besser als alle anderen, wie das geht, und hielt es für eine Bagatelle. Auch war nichts damit gewonnen, gegen Shakespeare eine Retourkutsche ins Feld zu schicken, nach der Formel: der Haß der Juden ist der Haß der Christen, die nicht falsch ist, aber zu kurz zielt. Hätte der Schauspieler wenigstens noch die nächsten vier Worte gelesen - „Deine Tochter war billiger“ -‚ ihm und uns hätte aufgehen können, daß der gesamte Akt, der dann vielleicht auch zu Ende hätte geführt werden können, nicht von entmischter Aggression, sondern von einer ungleich interessanteren Mischung der Gefühle erfüllt ist, worin Racheverlangen und erotische Attraktion um die Oberhand kämpfen. Die Tochter war ja in Wirklichkeit nicht billiger, der christliche Kaufmann sagt es nur, der sie gar nicht bekommen hat, aber doch wohl bekommen will, so daß das wahrhaft teure Judenfleisch - ihres ist. Durch den aktlangen verbalen Wutausbruch hindurch verständigen sich in gleichfalls aktlanger Zweideutigkeit zwei auf der Bühne Anwesende, aber nicht miteinander Redende, die im Begriff stehen ein Paar zu werden.
Allerdings habe ich meine Zweifel, ob wirkliche Zuschauer eines wirklich aufgeführten ersten Akts, ja selbst dessen Darsteller hierin klarer gesehen hätten. Dieser spielt auf dem Deck eines Schiffes, das soeben mit Secchi, das ist der christliche Kaufmann, in den Hafen eingelaufen ist. Das Stück beginnt mit einem Würfelspiel wie Das I mit einem Kartenspiel. Secchi würfelt mit dem Kapitän um dessen Hut, das heißt um das Kommando auf dem Schiff, und gewinnt. Auftrag und Fracht waren sowieso die seinen, das Schiff gehörte ihm nicht, nun hat er es. Die Mannschaft hat er zuvor bestochen, nun gehorcht ihm auch der Kapitän, er ist Herr der Lage und kann seinen Plan realisieren. Die mitgebrachten Waren werden als eine Art Basar auf Deck ausgelegt, um die Frauen der Stadt zum Kauf zu verlocken. Unter diesen kann Secchi rechnen Natania, die Tochter des Juden, wiederzusehen, mittlerweile eine Siebzehnjährige, die er bereits, als sie zwölf war, begehrt hatte und deren Abfuhr seinerzeit eine der Ursachen dafür war, daß er, selber kein Antisemit, unter Ausnutzung eines Pogroms die Vertreibung seines Konkurrenten, des jüdischen Kaufmanns Samson Ceneda, in die Stadt seines Exils, vor der er nun ankert, insgeheim organisiert hatte. Neid auf den weiterhin Erfolgreichen, Wut über die alte erotische Niederlage und neuer sexueller Appetit ergeben die Gefühlsmischung, die den Plan hervortreibt, Ceneda durch Entwendung seines Vermögens und Entehrung seiner Tochter zu vernichten. Das Schiff ist die für Natania aufgebaute Falle, die sie furchtlos betritt, indem sie auf dem Schiff am längsten verweilt, wie wenn sie den Feind ihres Vaters – wieweit es ihr eigener ist, dürfte ihr nicht ganz klar sein – vis á vis stellen wollte, und der sie kühn entkommt. Gegen sich hat sie Secchi, der sie umstandslos vergewaltigen will, dazu die elf Mann der Besatzung, denen jener sie zu gleichem Gebrauch angeboten hat, der Kapitän, der wehren könnte, ist entmachtet, das Triumphgelage vorbereitet und Natania, nach wenigen Repliken, die ihre große Verwegenheit beweisen, „springt ins Meer“. Das Schiff ist ein Kauffahrteischiff des sechzehnten Jahrhunderts, und der Sprung, der ohne Double auszuführen ist, schon weil Hic Rhodus, hic salta das Prinzip des Drachschen Theaters ist, müßte die volle Bühnenhöhe haben. Außer diesem Sprung sind ihr nicht viel Worte gegeben. In ohnmächtiger Wut, weil der Coup nicht geklappt hat und er vor der Mannschaft blamiert ist, bleibt der Kaufmann vor der zum Siegesschmaus gedeckten Tafel zurück. Der Aktschluß lautet (und Sie haben hier die vorgängige Entsprechung zum gestern Gehörten): „PAOLO: Mich lüstets nach rohem Fleisch. DAGOBERT (ein deutscher Schiffsmaat): Das Essen ist aufgetragen und der Trank. Braten und Wein. (Er versucht also den Worten Paolo Secchis eine harmlose Deutung zu geben.) Wir hätten das Fest damit beschließen sollen. GIOVANNI (der über das Scheitern der kollektiven Vergewaltigung, die eine Art Pogrom gewesen wäre, erleichterte Kapitän): So fangen wir es an damit. PAOLO: Nach Menschenfleisch. DAGOBERT (aus Deutschland, wie gesagt): Wir haben solche Märchen von Riesen. PAOLO: Judenfleisch. Santo Domingo. (Das ist der Ort, wo besagte Revolution vielleicht ausgebrochen ist und das Vermögen Samson Cenedas vernichtet haben soll.) Der Jude hat sein ganzes Geld auf eine Karte gesetzt. Santo Domingo. Sie hat es selbst gesagt: Er will Nachricht von dort haben. Er soll sie bekommen. Wenn er ein Schwindler wäre wie die anderen, ich wäre ihm über.
Aber er spielt den Gerechten, da muß es anders gehn. Und das Mädel, wer es am Weg erwischt und zurückbringt, dem geb ich – Mich lüstets nach rohem Fleisch, nach Judenfleisch.“ Das ist der Aktschluß. Ich nehme nun an, daß das einen Widerstand hervorruft, wenn man es spielt. Ich selber habe mich damit abgegeben und weiß, wie vertrackt es ist, wenn man nach der Rasanz des Vorhergegangenen an diese Klimax kommt - „Mich lüstets nach rohem Fleisch. Nach Menschenfleisch. Judenfleisch“ – die dann auf zwei Glieder verkürzt noch einmal wiederholt wird, und soll beim Extrem von Gefühl und Ausdruck angelangt steigern. Ich glaube, das würde auch ein sehr erfahrener Schauspieler für menschenunmöglich erklären. In dem Schauspieler, von dem wir vorhin sprachen, muß sich gegen das Wort, als es im zweiten Akt fällt, ohne daß er vermutlich wußte, daß es damit schon zum dritten Mal fällt, und zwar in seiner Rolle, etwas empört haben, und es muß einen Beschluß bei den Proben gegeben haben, an dieser Stelle abzubrechen. Dabei ist am Ende des ersten Akts die Sache furchtbarer als in der Mitte des zweiten. Denn beim ersten Mal hören wir das von dem Dichter Drach gesetzte Wort „Judenfleisch“ unvermeidlich wie ein Zitat aus einem Vorgang zwischen einem nationalsozialistischen Quäler und seinem gequälten Opfer, wenn da Worte überhaupt vorkommen, aber Drach hat nun einmal gerade in diese Situationen Worte hineingegeben. Ich fände es unendlich wichtig, über die Dinge bei Drach, die Widerstand hervorrufen, die uns ernstlich stören und empören und veranlassen abzubrechen, offen zu diskutieren, und dazu müssen wir, was uns in einem solchen Fall am meisten gegen den Strich geht: verweilen. Hinsichtlich der Stelle, die wir betrachten, bin ich erst klüger geworden, als ich mir eingestand, Gefühl und Ausdruck sind hier nicht durchzuhalten, geschweige zu steigern. Es geht nicht – es sei denn, ich hätte schlecht gespielt und wäre dem Vorhergehenden etwas schuldig geblieben. Bleibt man dran und will es dennoch machen, kann einem in der Verzweiflung die Möglichkeit der Antiklimax einfallen, also paradox auf einen ruhigen und stillen Ton herunterzugehen. Wenn man das nun macht – mir jedenfalls ist es so Gegangen – merkt man im selben Augenblick, daß das ungeheuerlich ist, aber geht. Wenn das Wort „Judenfleisch“ kommt, ist der Haß vollständig ins Begehren gemündet, und wenn es, mit der verkürzten Wiederholung der Sequenz, zum zweiten Mal kommt, spricht nurmehr einer, der, vielleicht ohne es schon zu wissen, liebt. In der Antiklimax haben Sie, extremer als die Spannungssteigerung in der Klimax, einen Spannungsbogen von der ohnmächtigen Wut bis zur Wehrlosigkeit vor der Liebe.
Wenn der Vorhang zum dritten Mal aufgeht, nicht zum dritten Akt, sondern zu einem „Zwischenstück“ zwischen dem zweiten und dritten, befinden wir uns erneut an Deck eines Schiffes, Ceneda mit Frau und Tochter sowie Secchi sind auf der Überfahrt nach Rom zum päpstlichen Gericht, das über die Wette entscheiden soll. Plötzlich macht Seechi Natania eine Liebeserklärung und fügt hinzu: „Ich weiß es längst, aber ich hätte es nicht sagen können.“ Nun, er hat es eben doch gesagt, im ersten Akt, wenn auch nicht ihr, und nur, wenn der Schauspieler an Ort und Stelle alles verstanden und herausgebracht hat. Das „Zwischenstück“ ist eine der großartigsten dramaturgischen Ideen Drachs und wunderbar in der Ausführung. Vielleicht durch Salacrou angeregt, der in Stücken, die Drach schätzte, den dramatischen Rückblick einführte, der auf der Bühne zu fragen erlaubt, ob ein Leben anders hätte verlaufen oder ein Vorgang zwischen mehreren Personen anders hätte enden können, versucht Drach hier das Umgekehrte, den dramatischen Vorblick. Indem die Handlung innehält, spricht der jüdische Gott oder sein Bote zu den drei Juden auf dem Schiff und auch der heterodoxe Christ, den er nichts angeht und zu dem er nicht spricht, ist von seiner Anwesenheit inspiriert. Die Zäsur verändert den Verlauf nicht, aber bleibt in ihm erhalten wie ein Fensterauge, das eine Kuppel schließt. Auch nimmt sie sich je nach dem Verhältnis, in welches Schicksal, Charakter, Glauben und Wissen treten, für die vier Personen verschieden aus. Samson Ceneda wird gerecht und selbstgerecht handeln und im Trotz blind, doch wenn es darauf ankommt sich gegen sein Unglück entscheiden, nachdem er das seiner Frau nicht verhindert hat.
Jerucheme, seine Frau, die treueste, wird alles sehen und ausweglos auf das Opfer zugehen, das sie aus Liebe zu ihrem Mann bringt. Natania, die „an nicht viel“ glaubt, wie sie selbst sagt, empfängt aber die Worte des Boten: „Du glaubst an das Leben, und das ist deine Rettung.“ Sie wird, wie schon einmal, der Falle entkommen. Es ist, wie wenn ihr der Segen gegeben würde, die ihren Glauben verläßt, als sie ihrer Mutter nicht mehr helfen kann, ihrem Vater durch sie geholfen ist und ihr freisteht, ihr Glück zu machen. Hinter Paolo Secchi schließlich steht, wie der Kapitän schon im ersten Akt konstatiert, der Teufel, aber er meint mit dem Fremden, für den er den Boten ansieht, übereinzustimmen, wenn er seine Maxime verkündet, die er mit dem Sade des Satansspiels teilt: „Ich habe gar nichts im Sinn. Das ist mein Vorteil vor euch. Wenn mir was einfällt, so mache ich es ganz. Aber wenn mein Weg nicht ankommt, so gehe ich einen anderen.“ Das sagt er nicht nur, sondern hat es schon bewiesen, und dafür liebt ihn Natania. Denn wie auch immer es mit Secchis Fähigkeit zu lieben bestellt sein mag, er hat die Fähigkeit geliebt zu werden – er braucht das Fleisch des anderen – und auch die Ergänzungsbedürftigkeit teilt er mit dem Sade des Satansspiels. Die Liebe tritt in die Zäsur ein und bleibt im Verlauf erhalten, wie sie in ihm zuvor sich bildete, so jäh, als wäre sie selbst die Zäsur im Verlauf, die im Verlauf erscheinende Umkehrung desselben. Auch wenn der Verlauf derselbe bleibt, ist nun den Personen ein Potential mitgegeben, das für die Umkehrung verspart ist.
Über dieses verfügen nicht nur die unverzichtbaren Spielernaturen, wie Secchi eine ist. Gewaltiger als er vollbringt Jerucheme vor ihrem Tod, in ihrem Tod am Ende des dritten Akts fühlend die Versetzung der Hölle ins Paradies von Gnaden derselben Glut, an der Secchi sich nur versengt. Ohne Jerucheme, die Frau des Juden und die Mutter seiner Tochter, die im Stück von Shakespeare vergessen ist, aber die kein Zuschauer des Stücks von Drach vergessen wird, sind nach der Idee des fünften Akts die übrigen Drachschen Spieler – die aus dem Leben auf die Bühne geholten Laienspieler, die Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ aufführen sollen und wollen und das Potential, das mit ihnen ist, einbringen, dieses zu verändern. Das „Zwischenstück“ hat seine Entsprechung im fünften Akt, das Ziel des letzteren, und des ganzen Stücks, ist die Umkehrung des Shakespeareschen, und der Geschichte des Antisemitismus, und da haben Sie eine Dramaturgie der Freiheit, die nicht allein an Salacrou sich mißt.
Die Rektifizierung Shakespeares, die Drach mit seinem Stück beabsichtigte, bezieht sich auf Motivationsschwächen, die es bei jenem gibt und die Drach für verursacht hielt von der Stoffwahl, die auch nach dem Urteil anderer eine Konzession an den damals wie in ganz Europa so in England epidemischen Antisemitismus war, dem im übrigen Marlowe mit seinem „Juden von Malta“ weit unbedenklicher Tribut zollte. Drach räumt ein, daß bei Shakespeare der Haß des Juden aus erlittener Mißhandlung stammt oder doch an ihr sich nährt, aber die sachliche Differenz, das Zinsgeschäft, wird nicht sachlich deduziert, sondern affektiv verdammt. Die Motivationsschwächen, die Drach gesehen hat, betreffen vor allem die menschliche Umgebung des Juden, seine Frau und seine Tochter.
Mit Jessica, der Tochter Shylocks, verhält es sich so, daß sie ihren christlichen Kaufmann – nicht den des Titels, sondern einen unter den vielen des Stücks – zwar liebt und darum ihren Glauben wechselt und ihren Vater verläßt, aber keinen Konflikt empfindet. Denn ihren Vater zu verlassen fällt Jessica leicht, nicht weil sie einen Christen liebt, sondern weil sie sich des Juden schämt, und sie nennt ihr Zuhause die Hölle wie ihres Vaters verräterischer christlicher Diener, mit dem sie konspiriert, seinen Herrn den Teufel. Auch verläßt sie ihren Vater nicht ohne ihn gewissenhaft zu bestehlen. Ist das Handeln Jessicas um den Konflikt verkürzt und sozusagen entlang dem Vorurteil begradigt, so hinterläßt die Exstirpation ihrer Mutter, der Frau Shylocks, die vielleicht, aber nicht sicher mit der von ihm aus seiner Junggesellenzeit berufenen Lea identisch ist, ein Loch in der Geschichte.
Wenn überhaupt, ist ihre einzige Spur der Türkis, den sie Shylock vor ihrer Ehe geschenkt und den Jessica vor der ihren ihm entwendet hat. Allenfalls dient die solcherart Abwesende zu Witzen, die ihrem Mann die Vaterschaft an Jessica streitig machen. Mit alledem statuiert der Autor die Auslöschung ihrer Person bei Lebzeiten, anstatt der Toten das Gedächtnis zu erstatten, das Shylock ihr schuldig bleibt, der durch Isolierung leichter zum Teufel zu machen war. Das ist, um das mindeste zu sagen, eine Schlamperei, und darum hat Drach in seinem Gegenstück zunächst einmal das Gedächtnis der Mutter hergestellt, die nach seiner Annahme – und was nahm Shakespeare an? – das Opfer eines antisemitischen Verbrechens wird, und sodann sich darum bekümmert, wie die Liebe der Tochter zu dem christlichen Kaufmann und der doppelte Verrat an ihrem Glauben und an ihrem Vater zu vereinbaren sind, insofern Liebe mit Konflikt, aber nicht mit Indolenz zusammen bestehen kann, Komödie hin oder her. Also erspart Drach die soziale Aggression, die den Vater trifft, auch der Tochter nicht und läßt sie überdies von dem Mann ausgehen, der mehr als nur ein Auge auf sie geworfen hat. Wenn Drach allerdings so verfahren wäre, daß in der Mitte seines Stücks als vollendete Tatsache zur Kenntnis genommen werden muß, die beiden haben sich weiß der Kuckuck warum ineinander verliebt und bringen die Fronten durcheinander, wäre er schlampiger gewesen als Shakespeare, der ja durch eine gewisse märchenhafte Willkür den Schwankschluß vom betrogenen Teufel und getauften Juden erzwingt, so daß ohne Stau und Vergeudung Blut und Geld, auch jüdisches, wieder zirkulieren. Drach hat nicht geschlampt, und so haben wir die Genese der Liebesgeschichte zwischen Natania und Secchi im ersten Akt, und zwar in ihrem Sprung und in seinen Worten, vom „rohen Fleisch“ bis zum Wort „Judenfleisch“, und dies Wort, dessen Bedeutung im zweiten Akt und das Stück hindurch zu schwanken bestimmt ist wie die Entscheidung zwischen zwei Weltaltern, dies Wort, das nebenbei das abscheuliche Lob Shakespeares revidiert, die Tochter sei „so reizend, als ob sie keine Jüdin wäre“, dies Wort muß im Mund des Schurken nun klingen, wie wenn auf Zureden der Schlange im Paradies der Mann es soeben vom Baum der Erkenntnis gepflückt hätte. Paradies, nebenbei gesagt, hieß für Drach der Ort, wo die verbotenen Bäume stehen, also nicht der Ort der Unschuld, sondern der Liebe. Ist das darstellbar? Ich glaube, es wird einer lange brauchen, bis er es wagt, dies Wort so in den Mund zu nehmen, als ob er ihm zwar nicht die Unschuld, aber alle erotische Kraft zurückerstatten könnte nach dem Holocaust.
Ich bitte um Vergebung, daß ich Sie so lang mit einer einzigen Szene beschäftigt habe. Aber nur bei größter Genauigkeit werden Sie erkennen, warum es so schwer ist, eine solche Stelle bei Drach – und Drach besteht aus solchen Stellen – zu spielen. Es geht hier um den Sprung aus einer Situation, die, von einem Nicht- Antisemiten arrangiert, auf ein antisemitisches Pogrom hinausläuft, in eine Welt, in der es keine antisemitischen Pogrome mehr gibt. Ich darf nicht so tun als ob, sondern ich soll es zuwegebringen, auf der Bühne. Vom Schauspieler wird nicht nur zu zeigen verlangt, wie einer eine Situation beherrscht, sondern wie einer einen Anfang macht, von dem eine andere Welt ihren Ausgang nehmen kann. Das von Drach gesetzte Wort soll einer aufnehmen und dorthin versetzen, wo es den Holocaust nicht mehr bezeichnet, den es bezeichnet, bis es einer kann. Der Antisemitismus war für Drach – es ist dies ein unendlich genauer historischer Blick gewesen, den schon der ganz junge Dichter gehabt hat – eine fast zweitausendjährige Täter-Opfer-Geschichte zwischen den Christen und den Juden, mit katastrophalem Ende. Er hat diese Geschichte und ihr Ende, wie wenn über ihn kein Tabu des Verstummenmüssens Gewalt hätte, mit niemand vergleichbar nennend auf die Bühne gebracht, die sich ihm versperrt, und Sie werden, wenn Sie es machen oder betrachten und dabei Ihre Angst und Ihre Abwehr aushalten, ahnen, was es heißen könnte, daß die Menschen ihrer selbst mächtig werden.
II.
Wenn Sie mir noch ein paar Minuten gestatten, gehe ich auf das eine und andere vom heutigen Tag ein. Bei der mehrfachen Behandlung des Kasperlspiels vom Meister Siebentot fiel mir auf, daß der Prophet zwar erwähnt wurde, aber nicht der Skandal benannt, den die Figur eigentlich bedeutet. Demonstriert wird in dem Stück ja nicht nur die intellektuelle Verführung der Bevölkerung durch den Phrasen reproduzierenden Kasperl und die libidinöse, sich auf einer Trommel in die Herzen der Zuschauer tanzende Amanda. Sondern das Unternehmen Siebentot funktioniert nur durch Krieg, und der Krieg – wird er gewonnen, soll die Beute nicht verteilt werden, wird er verloren, gibt es keine – nur durch basale Opfer, die eine Zivilisation, die den Krieg erlaubt, ächtet, Menschenopfer. Das Entsetzliche ist, daß Siebentot auf die Idee solcher Opfer allererst gebracht wird durch einen der für sie prädestinierten „Anderen“. Er beschuldigt sich selbst und fügt sich in die Rolle des Opfers – so in der gedruckten Fassung des Stücks. Er verrät sich und die Seinen in der Hoffnung, als letzter Dranzukommen – so in einer späteren ungedruckten Fassung. Der das tut, ist die einzige individualisierte Figur des Stücks, in der gedruckten Fassung Köpfler mit Namen, was ein Austriazismus ist, der in der ungedruckten durch den vollen Namen Ephraim Kopfsteher ersetzt ist. Dem sprechenden Namen zufolge ist er ein jüdischer Intellektueller, des Verrats und Selbstverrats schuldig – Drach dachte bevorzugt an Marx und Kraus – aber wohl nicht nur zum Stand auf dem Kopf fähig, durch den man die Welt verkehrt sieht, sondern auch zum Sprung oder Stoß mit demselben. Das Opfer ist es auch durch die Opferrolle. Aber es speichert in sich eine gegen sich gerichtete Kraft der Vernichtung, die nach außen entbunden werden könnte. Nämlich dann, wenn einer die Opferrolle sprengt. Ich denke, es wird Ihnen gleich mir nicht leicht fallen, oder gefallen sein, zu begreifen, wie es eigentlich im siebenten Bild zur Peripetie, zum Sturz Siebentots kommt. Man muß oft und lang hinsehen, vielleicht auch es in sich hineingenommen und geträumt haben, eh einem die Deutung kommt. Siebentot ist ja nicht nur, worauf Volker Klotz abgehoben hat, die Marionette, vertikal gelenkt vom Schaubudenbesitzer im ersten und achten Bild, in den Bildern seines Erdenwegs dazwischen nurmehr horizontal bewegt und bewegend als mechanischer Phrasenmultiplikator – eine übrigens Kraus verdankte Konzeption – sondern nachdem der Schaubudenbesitzer Kasperl mit Formeln des Johannesevangeliums in die Stadt entsandt hat, bleibt er weiter „hinter ihm“ und bläst ihm ein, auch wenn er, wie erstmals im vierten Bild, den Himmel stürmen will, und erst als er sich, im siebenten Bild, schlechterdings Gott zu werden anschickt, versteht der Teufel keinen Spaß mehr und trachtet die hybrid gewordene Puppe – Gott und Puppe sind seit Kleist nicht so weit voneinander – aus dem Spiel zu nehmen. Volker Klotz hat gegenüber den Drachschen Theologumena eine gewisse Unlust bekundet. Die Puppe als Entelechie eines Gottes, und das als Darstellung Hitlers, ist auf Anhieb eine Zumutung. Aber daß Siebentot Gott ist, heißt jedenfalls, daß er nicht der Teufel ist, und das ist räsonabel. Der Holocaust war kein Werk des Teufels. Das haben inzwischen auch andere gesagt, keiner so früh und so klar wie Drach im Kasperlspiel und in Das I, Stücken, von denen Csokor sagte, ihresgleichen seien in der Nachfolge Büchners nicht geschrieben worden. Im siebenten Bild feiert der Gott Hochzeit mit seiner Braut und mit seinem Volk – Staats- und Geschlechtsakt gehen durcheinander – und nichts hindert das Publikum sich mit seinem Abgott zu vereinigen, außer etwa dessen Impotenz, und just die hindert nicht. Die Bühne wäre in blendendes Weiß zu tauchen, wie in der Brautgemachszene aus Lohengrin. Als Amanda ihrem Kasperl etwas ins Ohr flüstert, auf das er mit dem Ausruf „Ha? Hure, Hure! Hure!“ reagiert, mag es das Geheimnis ihrer Schwangerschaft sein, die freilich nicht ihrem Verkehr mit Kasperl sich verdanken könnte – sie vollständig nackt, er vollständig angekleidet – eher einem Seitensprung mit dem Korporal, der ohnedies nach einem Nachfolger Ausschau hält, und die wer weiß in welchen Umständen befindliche Amanda scheint einen Augenblick Siebentot zu überwachsen, mit dem sie eins ist. Er ist allmächtig – und stürzt wodurch? Ich halte mich zunächst an die gedruckte Fassung. Dort sagt einer seiner Kumpane:,,Er glaubt, daß er echt ist. Es ist aus mit ihm.“ Doch sagt er auch, daß er sich noch retten könne, wenn er das bis jetzt aufgeschobene Opfer an Köpfler vollzöge: „Wir wollen was zum Zerreißen haben.“ Aber da erfährt er, „daß der Herr Prophet davongelaufen sind“. Ich gebe zu, daß das dramaturgisch undeutlich bleibt, da das Davonlaufen mitsamt den Bedingungen seiner Möglichkeit erstens hinter die Szene verlegt und also unspielbar und zweitens höchstens ein Dreigroschenfinale ist. Aber genaues Hinblicken könnte dem Text doch entnehmen, daß es das Aufbrechen der Opferrolle ist, das Siebentots Autotheismus beendet. Die spätere ungedruckte Fassung, die Drach für verbindlich erklärt hat, ist deutlicher. Der Korporal hat sich zum eigenen Schutz im Kerker mit Ephraim Kopfsteher eingeschlossen, mit diesem geredet und empfiehlt per Telephon Amanda und Siebentot ihn anzuhören. In plötzlicher Panik lassen sie sich unter grotesken Sicherheitsvorkehrungen auf die Begegnung ein. Anders als in der gedruckten Fassung ist in dieser der repräsentative Singular des Opfers und Verräters Köpfler insoweit aufgegeben, als die Opferung der Hekatomben der Inanspruchnahme des vorläufig verschonten Kopfsteher vorhergegangen ist und ihn belastet. So treffen nun zusammen Siebentot und von den Juden dieser, sein Prophet. Auf keine szenische Anweisung darf verzichtet werden, damit wir innen sehen und außen hören: den Gefangenen aus dem Verlies heraufgebracht, an sehr langer Kette vom Wärter gehalten im Nebenraum durch die Wand – - „Juden vergewaltigen durch die Wände“ – sein Menetekel rufend. Er verkündet dem Gott die Auferstehung, das heißt den Tod, sagt nicht: er wird sterben, sondern: „er wird wieder kommen“. (Entsprechend darf Kasperl, als er im achten Bild aus dem Spiel heraus und wieder unter der Kontrolle des Schaubudenbesitzers ist, das Stück beschließen: „Und morgen komme ich wieder.“) Erwarten, daß der Tyrann stirbt, ist die dem Ohnmächtigen verbliebene aggressive Handlung. Das ist in dem wie das Kasperlspiel im Exil entstandenen Roman „Der Tod des Widersachers“ von Hans Keilson, der Drach vermutlich unbekannt war, ebenso dargestellt. Vom Propheten übrig ist der Vernichter. Das Wissen, daß Gott sterblich ist, ist satanisch. Auch in der endgültigen Fassung läuft Kopfsteher in der allgemeinen Auflösung davon, aber jetzt heißt es bestimmt: „Er hat sich zum Herrn Schaubudenbesitzer begeben.“ Der ist der Teufel. Wir haben keine Ursache uns das Sprengen der Opferrolle als glückliches Ende vorzustellen. Wir haben vielmehr darüber ins reine zu kommen – es ist der Skandal, von dem ich sprach – daß uns am Punkt der Befreiung bei Drach die Gestalt nicht des edlen, sondern des schuldbeladenen Juden erwartet.
Die gleiche Szene, grauenhafter in der Ausführung, finden wir in dem Stück Das I am Anfang des vierten Akts. (Nicht unwahrscheinlich, daß sie zur Komplettierung der Figur des Propheten aus diesem Stück in die letzte Fassung des Kasperlspiels übernommen wurde wie die Figur des Propheten als solche aus dem ursprünglichen Kasperlspiel in Das I.) Der vierte Akt enthält die Peripetie. Vor Alois Gangstl, das ist der Hitler dieses Stücks, seiner Anlage nach auch nicht mehr als ein „Haubenstock mit eingebautem Grammophon“, wird auf dem Höhepunkt des Kriegs und seiner Macht, indem sie sich zu neigen beginnen – Mulli, der Spielleiter, hat ihn verlassen – Abraham Schmattes gebracht. Er ist Shylock, dessen Charakter Drach auf den Charakter Samson Cenedas zurückführen wollte, hier aber im Gegensinn veränderte zu besonderem Zweck. Er kann weissagen, und er ist Jude. Um nicht auf der Stelle tot zu sein, empfiehlt er sich als Verräter der Seinen: „Ich leiste den schmutzigen Handgriff an der Kehle des Bruders.“ Es kommt zu einer Privataudienz, und Schmattes sagt das gleiche wie Kopfsteher, „Sie gehen in die Reserve“, der selbsterklärte „Übergott“ ahnt, daß in dem vorausgeschickten Satz „Sie werden nie sterben“ auf das „nie“ kein Verlaß ist, und schießt ihn nieder. An dieser Stelle hat Drach den Satz erfunden, um dessen Verifizierung sich die Historiker bis heute vergeblich bemühen, den Befehl nämlich, der der Wannsee-Konferenz zugrundegelegen haben muß, er läßt Gangstl sagen: „Angesichts dieses verendeten Juden beschließe ich die Endlösung der Judenfrage.“ Bevor er stirbt aber hat Schmattes noch sagen können: „Sie gehen trotzdem in die Kiste.“ Ich muß Sie auch bei dieser Szene, gegen die sich alles sträubt und die nie aufgeführt wurde, ein wenig festhalten. Worum es hier geht, ist, daß uns in seiner verworfensten Gestalt ein Mensch gezeigt wird, der die Kraft hat, Hitler zu töten. Durch seinen Verrat ist er zu ihm vorgedrungen, er wird von ihm umgebracht, aber er weiß und sagt ihm den Tod voraus, und das ist nach dem für Primitivgötter seines Schlages maßgebenden magischen Denken der Tod selbst. Die dramaturgische Idee des vierten Akts ist das Alternieren zwischen den Szenen der Juden im Vernichtungslager und denen der deutschen Armee auf dem Rückzug aus Rußland, also die Gleichzeitigkeit der Endlösung und des Endes der Welteroberung. Ich denke, es wäre die Pflicht des Burgtheaters gewesen – wie es nach dem ersten Weltkrieg eine gleichfalls versäumte gab, die „Letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus aufzuführen – nach Hitler Albert Drachs Stück Das I aufzuführen, dessen Idee unmittelbar mit der Rückkehr im Winter 1947/48 zusammenfällt und dessen Niederschrift in kürzester Zeit und in einer einzigen Fassung 1963 erfolgte, die zwei Jahre später gedruckt wurde. Ich merke hier nur an, daß zwischen den beiden Stücken von Kraus und Drach ein nicht weniger gespanntes Verhältnis herrscht als zwischen den anderen beiden von Beckett und Drach. In meinem kleinen Buch habe ich geschrieben, daß, wenn einmal jener Pflicht betreffend Das I Genüge getan werden sollte, die Menschen, die das machen, am Ende dieses Vorgangs nicht mehr dieselben sind, und auch die Stadt nicht, in der das geschieht. Ein mißverstandenes Kasperlspiel im Volkstheater ist nicht der Ernstfall. Hätte man diesen riskiert, wäre wohl etwas mehr ins Wackeln geraten als bei dem gewiß unverächtlichen „Heldenplatz“, den das gegenwärtige Burgtheater als Heldentat reklamieren könnte. Nachdem es die Uraufführung des Satansspiels bereits versäumt hat, kann es immer noch die Uraufführungen von Das I, Gottes Tod ein Unfall, Das Fleisch des anderen und Das Trittabschlagen versäumen.
Gottes Tod ein Unfall, das vielleicht furchtbarste dieser Stücke, rekapituliert die Christologie, das Erscheinen Gottes auf der Erde, genauer in einem Wiener Mietshaus, szenisch nach dem Modell von Nestroys „Zu ebener Erde und erster Stock“ unter vier Parteien aufgeteilt. Ein Unbekannter nimmt bei ihnen Wohnung und auch in ihnen, denn er befreit sie von der Schuld. Schuld gab es, vor seinem Erscheinen waren in allen vier Familien die Kinder aufgrund Vernachlässigung und Schlimmerem durch Tod abgegangen, ein Kindermord unter Beteiligung der Eltern zur Ankunft des Messias, der dann ebenfalls, weil das von ihm ausgehende, alles durchdringende Licht je länger je weniger zu ertragen ist, umgebracht wird. Die dubiose Aufklärung des Mords, der als Unfall deklariert wird, führt über die Sanktionierung des Gerüchts zur Bildung einer vereinfachten Religion, die ohne andere Zwischeninstanz als den Staat in der Veranstaltung eines monatlichen Volksfests besteht, bei dem jeweils eine nach wechselnden Merkmalen ausgewählte Bevölkerungsgruppe für die übrigen zum Abschuß freigegeben wird, und zwar, damit jeder mitmachen kann, einstweilen mit den Waffen der Steinzeit, Pfeil und Bogen. Es ist eine Parodie des Evangeliums, es ist die Zurücknahme der Matthäuspassion, es ist ein Stück über den christlichen Messias im nunmehr homogen christlichen, judenreinen Europa. Es ist furchtbarer als das Stück Das I. In diesem – das wäre dem Begriff des Spiels bei Volker Klotz hinzuzufügen – ermöglichen der Vorhang, der die Abteilungen, und das Gerüst, das die Geschosse trennt, eine Dramaturgie, derzufolge neben, fast möchte man sagen unabhängig von dem Spiel der Täter ein eigenes, in sich geschlossenes Spiel der Opfer statthat, das nicht nur Reaktion ist, die wer denn auch bestreiten sollte, die Toten?
Sie gehen vielmehr zum Angriff über, hören wir, ungeheuerlich, aus Bremses Mund im vierten Akt. Was wir in dem Stück sehen, ist gleichzeitig die Ermordung des einen Volks durch das andere, und: daß jedes Volk, mit seinem Gott, den es hat und verdient, seine Geschichte hat, die einen mit ihrem Heiland für dreizehn Jahre, die anderen mit ihrem alten Gott, der nichts für sie tun kann und nicht eingreift, aber in dem neugeborenen Kind einer namenlosen Frau für den, der es glauben kann, sich auch bezeugt, das aus dem Lager herausgebracht wird in das versprochene Land. So daß, wenn Sie es aushalten und lange hinblicken, das Toben der Täter akustisch zurücktritt und etwas zur Geltung kommt, wofür es eigentlich nur den Begriff Vision gibt, den Drach fürs Eigene gebraucht hat, oder den des Prophetischen, den Drach nicht auf sich angewendet, über den er aber inständig nachgedacht hat, siehe die einschlägigen Gedichte in den Entblößungen, aber auch die wie auch immer depravierten Figuren Kopfsteher und Schmattes. In Drachs Vision des Exodus wird Schmattes hereingenommen; er spricht im Stück von den Trümmern eines jüdischen Staates schon, als noch keiner an seine Gründung denken kann. Nicht sowohl zwischen Gott und Teufel als vielmehr zwischen den Göttern und zwischen den Teufeln lehrt diese Dramaturgie unterscheiden, zwischen Gangstl und dem Namenlosen, zwischen Mulli und Schmattes. Die von den Spielern verkörperte und in den Abläufen bewahrheitete Mitteilung des Drachschen Theaters an die Zuschauer ist in grober Zusammenfassung die, daß eine messianische Kraft bei jedem wäre, der zu der vollendeten Kühnheit fähig ist, eine andere Welt mit dem, was er tun kann, auch wenn es sozusagen nichts ist, beginnen zu lassen. Allerdings hat Drach die messianische Kraft, die er jedem Menschen vindiziert hat – und mit der sich ins Benehmen zu setzen kein Spieler einer Drachschen Rolle vermeiden kann – nicht für ausreichend gehalten, wenn ihr nicht die satanische beitritt. Es handelt sich bei alledem nicht um ein theologisches Theater, sondern um ein geschichtliches, und nicht um die ohnmächtige Deutung des Holocaust, sondern um die anthropologische Antizipation, daß die Menschen Kräfte hätten, die Nietzsche noch romantisch übermenschliche nannte, die aber ältere Erfahrung realistischer je nachdem messianische genannt hat oder satanische, und daß sie den Menschen, wenn sie einen großen Mut haben, wie Nietzsche sagt, zur Verfügung wären, beispielsweise wie in Das Fleisch des anderen eine Pogromszene in einen ersten Tristanakt zu verwandeln oder, wie Sade im Satansspiel sagt, „dem Boden unter meinen Füßen eine andre Bedeutung zu geben“. Den weltverändernden Sprung auf der Stelle, der hier angezeigt ist, tut übrigens vor dem Marquis die Comtesse, die sich, weil sie ihn liebt, erschießen läßt, und Sade tut ihn ihr nach, der, wiewohl die Vernichtung seine Freude ist, der Guillotine entgegentritt, nachdem er den Sturm auf die Bastille bewirkt hat. Es ist nun aber – und auch das bitte ich Sie noch in sich aufzunehmen – dem Messianischen ebenso wie dem Satanischen ein negatorisches Element eingebaut, ein regulatives: das ist es nicht, so zwar, daß keiner wegen eines göttlichen Funkens sich der Messias dünken darf noch wegen eines diabolischen der Teufel. Wenn Sie so wollen, ist die bestimmte Negation der gemeinsame Nenner des falschen Messias und des dem Bösen abtrünnigen Teufels.
Idee und Bild eines Messias, der weiß, daß er der falsche ist, aber der einzige, der kommt, hat der ganz junge Dichter in einem Stück, das mehr als zwei Jahrzehnte vor dem Holocaust die vor diesem furchtbarste Katastrophe der jüdischen Geschichte darstellt und dessen Druck und Aufführung innig zu wünschen sind, dem Umriß einer historischen Figur abgewonnen. Ich erwähnte das Spannungsverhältnis zwischen den „Letzten Tagen der Menschheit“ von Kraus und dem Stück Das I von Drach. Man kann das Thema des Konflikts bis auf den ersten Weltkrieg zurückverfolgen. Während diesem schrieb Kraus etwas so Großartiges und zugleich Problematisches wie die Letzte Nacht, den Epilog seines Dramas, ein undrachisches Satansspiel, dessen Satan der „Herr der Hyänen“, will sagen der Herr der Presse und zwar Moriz Benedilct ist, zugleich, weil Kraus zu dieser Zeit Abstriche an der Kritik des jüdischen Geistes für eine Beförderung des Antisemitismus hielt und es erst später anders wußte, Judas und der Antichrist. Aber schon kurz nach Kriegsende, 1920, schrieb der siebzehnjährige Drach sein Stück Der Antichrist, das es anders meint. Wohl gab es zu dieser Zeit in Wien Sehende, nicht nur die Zionisten, die Kraus, bedingungsloser Verfechter der Assimilation, ablehnte und die Drach besser verstand, wiewohl er keiner wurde. Es ist gleichwohl erstaunlich, daß dieser Siebzehnjährige, der die Flüchtlinge aus Osteuropa sah wie mancher andere, wusste – prophetisch wusste – was kommt, und ihnen den Messias gedichtet hat, wenn ich das einmal so abgekürzt formulieren darf. Ein Genie ist er wahrscheinlich insofern gewesen, als sich wahrgenommene Not und innerlich gehegtes Bild in der Erschaffung der Figur unvergleichlich durchdrungen haben. Simon bar Kochba, die Hauptfigur in Drachs historischem Schauspiel, Messiaskönig und gescheiterter letzter Aufstandsführer der Juden vor dem fast zweitausendjährigen Exil, war vergessen und mußte aus der Geschichte herausgesprengt werden. Zu deren Studium hatte er den großen Graetz. Von innen kamen die Unsterblichkeitsphantasien, die schon in dem Kind zu arbeiten begannen - Sie alle kennen die oft erzählte Geschichte von der Begegnung des Fünfeinhalbjährigen mit der Leiche eines Ertrunkenen und den Folgen – und die über viele Zwischenstufen, vorliterarische und literarische Gottessohnschafismythen in der Ichform, schließlich in dem historischen Schauspiel Der Antichrist erstmals völlig sich objektivierten. In diesem aber – und das macht den Wahrheitsgehalt aus und unterscheidet diese jugendliche Gedankenentwicklung von einer Wahnbildung – weiß sich der Messias selber als falsch, souverän übereinstimmend mit dem Urteil der Juden und selbst der Christen, und geht dennoch nicht für immer weg, sondern bleibt unerkannt da bei denen, die untergehen, ein Passionsweg ohne Apotheose. Wenn Sie das hören, kommt Ihnen natürlich die Erinnerung an die Seiten in Z.Z., wo Drach angesichts sehr angewachsener Bedrohung die zum Zwetschkenbaum führenden Gedanken darlegt und als den Kern der Vorstellung vom Messias den Satz des Hausierers benennt, er sei gekommen, um dazusein. Das hat Drach wohl sein wollen, ein nichthelfenkönnender, aber anwesender Zeuge, wenn die Vernichtung geschieht.
Aureolen gibt es für die messianischen Figuren auf Drachs Bühne so wenig wie bengalische Beleuchtung für die satanischen, die denn auch ganz andere Aufgaben zu vollbringen haben, als ihnen bei ihrem Fall geträumt hat. Es sind Potenzen, die ein ganz Unerschrockener haben kann, zur Veränderung einer Situation weit über das hinaus, was die versperrte praktische Veränderung etwa im Sinne Brechts zu gestatten scheint.
Damit habe ich Ihnen so gut ich kann meine augenblickliche Antwort auf die Frage gegeben, warum Drachs Werk so schwer zu vertreten ist, zumal auf dem Theater. Ich denke, sobald nur ein paar das brennende Interesse haben und zusammenkommen, sollen sie anfangen und das Unmögliche realisieren, Druck und Aufführung aller siebenundzwanzig Stücke, und wenigstens nicht vor der Lektüre aufhören. Die Einzahl hat schon Drach selber überschritten. Wer mit seinem Werk allein ist, bildet eine Mehrzahl und erweckt aus der Fotokopie den Dialog.
Quellenangabe:
Am 12. Dezember 1997 fand im Literaturhaus Wien das „Erste Symposium der Internationalen Albert Drach-Gesellschaft“ statt. Die dort gehaltenen vier Referate (von Volker Klotz, Alexandra Millner, Paul Roessler und Reinhard Schulte) werden nun auf der Website dokumentiert. Die Texte erscheinen in der damals von den Autoren vorgelegten Form, die unterschiedlichen Zitierweisen wurden belassen, typographische Besonderheiten berücksichtigt.
Die vier Referate bildeten 1998 das erste reguläre Heft der Zeitschrift „Prozesse“. Dieses Organ der „Internationalen Albert Drach-Gesellschaft“ erschien seinerzeit nur drei mal, die damaligen Beiträge werden sukzessive online gestellt werden.
Der Text ist die sprachlich überarbeitete und gelegentlich sachlich ergänzte Tonbandtranskription eines frei gehaltenen Vortrags. Den improvisatorischen Charakter des in Wien Gesagten wollte ich nicht nachträglich verändern. Auf Gründlichkeit Bedachte möchte ich vorläufig auf das kleine selbstverlegte Buch „Albert Drach und sein Theater“ (1993) hinweisen und auf die Aufsätze „Albert Drachs Stücke“ in dem Dossier Albert Drach bei Droschl und „Kam“ in der Edition Tübinger Theater Lektüre (beide 1995). Von den im Vortrag meditierten Stücken Drachs sind in den Bänden II und VII seiner Gesammelten Werke erschienen: Das Satansspiel vorn Göttlichen Marquis, Das Kasperlspiel vorn Meister Siebentot, Das I, Gottes Tod ein Unfall, in der Zeitschrift Wespennest: Das Trittabschlagen, liegt im Verlag der Autoren als Bühnenmanuskript vor: Das Fleisch des anderen, nebst der endgültigen Fassung des Kasperlspiels; und ist im Österreichischen Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek zugänglich: Der Antichrist. In der von Hermann Beil geleiteten Veranstaltung im Vestibül des Burgtheaters lasen die Rolle des Ceneda: Martin Schwab, die des Secchi: Peter Wolfsberger.