Sendung: Sonntag, 13. März 1988 | 18.03 – 19.30 Uhr

KULTURKRITIK

DAS KULTURJOURNAL

Moderation: Peter Hamm


Guten Abend, verehrte Hörer! – Von dem einen Autor, Josef W. Janker, hat Heinrich Böll gesagt, sein Werk gehöre zum unverzichtbaren, eisernen Bestand der deutschen Nachkriegsliteratur, über den anderen Autor, Albert Drach, schrieb die Londoner ,Times‘ einmal, er sei neben Elias Canetti der einzige deutschsprachige Gegenwartsautor von Weltrang; doch beide Namen, Drach wie Janker, sind heute – obwohl beide Autoren noch lebe – gewiß nur ganz gewieften Kennern ein Begriff.

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In unserem heutigen Kulturjournal will ich Ihnen diese drei zu Unrecht vergessenen Künstler vorstellen, die bei aller nur denkbaren Verschiedenheit doch ein Gemeinsames haben, nämlich ihren Abscheu vor Faschismus und Krieg. Als Anlaß dieses Wiederentdeckungsversuchs dient mit die Tatsache, daß alle drei – Drach, Janker und Schulhoff – in diesen Tagen erstmals wieder zu so etwas wie Öffentlichkeitsehren gekommen sind. […] der Münchner Hanser-Verlag hat unter dem Titel „Unsentimentale Reise“ einen Band der Autobiographie Albert Drachs vorgelegt, aus dem Rudolf Wessely in unserem Kulturjournal einen längeren Abschnitt lesen wird.

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Bevor ich Ihnen, verehrte Hörer, nun Näheres über Albert Drach berichte, seine verrückt-aufregenden Bücher und seine verrückt-aufregende Biographie, sollen Sie ihn zunächst einmal selbst vernehmen, - und zwar liest er einige Abschnitte (oder Sentenzen) aus seinem 1974 erschienenen Buch „In Sachen de Sade“. Der Marquis de Sade – so viel sei schon jetzt verraten – ist nämlich einer der geheimen Hausgötter Albert Drachs, über den er bereits in den Zwanziger Jahren ein Drama schrieb, das kein Geringerer als Hans Henny Jahnn zum Kleist-Preis vorschlug. An de Sade fasziniert Drach offensichtlich dies, daß er in seiner Unmoral sozusagen ehrlicher war als andere, anerkanntere Autoren in ihrer Moral. Aber hören Sie selbst, zu welchen Einsichten der französische Marquis den österreichischen Juden inspiriert hat:

 

ALBERT DRACH LIEST AUS „IN SACHEN DE SADE“

ERWIN SCHULHOFF: JAZZ-ETÜDE NR. 4

 

Sie hörten nach den Auszügen aus Albert Drachs „In Sachen de Sade“ eine der Jazz-Etüden für Klavier von Erwin Schulhoff, den ich Ihnen später noch ausführlicher vorstellen werde. Lassen Sie mich an dieser Stelle erst einmal etwas über Albert Drach erzählen. Er wurde 1902 in Mödling bei Wien geboren und ließ sich von seinem Vater, der ursprünglich Gymnasialprofessor für Mathematik und Physik, später Vorstand der Österreichischen Länderbank war, dazu überreden, Jura zu studieren und Anwalt zu werden. Neben seiner Anwaltstätigkeit schrieb er allerdings Gedichte, Dramen, Romane, die freilich nur bei ein paar Schriftsteller-Kollegen, nicht jedoch beim breiten Publikum Resonanz fanden. 1938, nach dem sogenannten ,Anschluß‘ Österreichs, ließen die Nazis Drach, der als Anwalt jetzt vor allem jüdische Klienten gegen die neuen Machthaber vertrat, zunächst ungeschoren, sie ließen auf der Mödlinger Polizeiwache sogar eine Tafel mit der kuriosen Aufschrift anbringen: „Für Juden verboten, außer Dr. Drach“. Erst als sein Hausmeister, der auf seine Wohnung spekulierte, ihn als „kommunistischen Hetzer“ denunzierte, fühlte Drach sich seines Lebens nicht mehr sicher und plante fortan die Flucht. Die Pointe dieser Denunziation lag übrigens darin, daß der Jude Drach damals immer noch den Habsburgern nachtrauerte! Wie sehr Drach damals in Mödling gedemütigt wurde, doch auch wieviel Komik er solchen Demütigungen abzugewinnen wußte, zeigt eine charakteristische Stelle aus dem ersten Band seiner Autobiographie, die mit „,Z. Z.‘ das ist Zwischenzeit“ überschrieben ist. Da beschreibt Drach, wie er - der sich hier nur “der Sohn“ nennt, vom braunen Mob aus der väterlichen Wohnung gezerrt und gezwungen wird, auf das Firmenschild eines jüdischen Händlers den Satz „Nur ein Schwein kauft bei Juden ein!“ zu schreiben, – was aber so recht nicht gelingen will. Zitat:

„Schließlich ergab sich eine Lage, bei der ein SA-Mann den Farbtiegel hochhob, ein anderer den Pinsel eintauchte, während ein Zivilist die Leiter ansetzte, auf welcher der Sohn sodann gemächlich hinaufstieg. Aber auch oben angelangt, schrieb er von den Worten, die den Geschäftsinhaber in den Augen der Kundschaft herabsetzen sollten, zunächst bloß den Anfangsbuchstaben der Einleitungssilbe „Nur“.

Weil nun aber bereits das erste „N“ vom Sohne so groß ausgeführt wurde, daß zu besorgen stand, er werde nicht den ganzen Satz hinbringen, ordnete der Schneider eine kleinere Schreibweise an, worauf das „U“ so winzig ausfiel, daß es kaum mehr mit freiem Auge auszunehmen war. Als daraufhin der Schlosser auch diese Schriftart beanstandete, erklärte der Sohn, möglicherweise nicht ohne Beziehung im Tonfall auf den herrschenden Zeitgenossen, welcher derlei Metier aus früherer Ausübung beherrschte, daß er seinerseits eben kein gelernter Anstreicher sei, daher die einschlägigen Maßstäbe anzuwenden nicht in der Lage wäre.“ (Zwischenzeit, Seite 225 f.)

Vor dem Anstreicher Adolf Hitler flieht Albert Drach 1939 auf Umwegen über Jugoslawien nach Nizza, wo er bald von den Franzosen interniert und von einem Lager zum anderen geschleppt wird. In einem erlebt er den Freitod des Freundes Walter Hasenclever. Im Herbst 1942 wird er von der Fremdenpolizei ins Lager Rives-Altes gebracht, wo jene gesammelt werden, die von der Vichy-Regierung an die Deutschen ausgeliefert werden sollen und das heißt: für die Gaskammer bestimmt sind. Aufgrund eines Dokuments seiner Halbschwester Alma kommt Drach unmittelbar vor der Deportierung aus diesem Todeslager frei, - schließlich erhält Drach sogar vom Ministerium für jüdische Angelegenheiten ein offizielles Zertifikat, demnach er kein Jude sei. Drach hat nämlich die Initialen „I. K. G.“, die sich auf seinem sogenannten „Heimatschein“ finden und „Israelitische Kultusgemeinde“ bedeuten, übersetzt mit „Im katholischen Glauben“. Dieser tolldreiste Trick rettet ihm tatsächlich das Leben.

In der Umgebung Nizzas verbringt er, freilich in ständiger Furcht, erneut verhaftet zu werden, die Kriegsjahre, schließt sich bald der Résistance an und verhindert 1944 sogar die Zerstörung eines französischen Dorfes durch deutsche Truppen, weil er denen die Nähe amerikanischer Panzer suggeriert. – 1947 kehrt Drach nach Österreich zurück, wo er auch jetzt absolut unwillkommen ist. Im Mödlinger Elternhaus, das nach der Deportation seiner Mutter in ein Vernichtungslager, erst von Deutschen enteignet, danach von Sowjets als deutsches Eigentum beschlagnahmt wird, wohnt in der besten Parterrewohnung eben jener Hausmeister, der Drach einst bei der Gestapo denunziert hat – und gegen den ein Räumungsverfahren bald von einem Wiener Gericht eingestellt wird. In den Wohnungen der ehemals engsten Freunde sieht Drach wertvolle Bilder und Uhren aus den Sammlungen seines Vaters, aber niemand macht Anstalten, ihm das angeblich nur „Aufbewahrte“ wieder zurückzugeben. Drach arbeitet wieder als Anwalt, heiratet 1953 die gerade 20 Jahre alt gewordene Sängerin Gerty Rauch und hat den Traum von einer literarischen Karriere eigentlich längst begraben, – als etwas Merkwürdiges passiert.

Auf einer Reise nach München, wo Frau Drach eine Hilfe für die Anwaltskanzlei ihres Mannes sucht, nimmt sie auch ein paar beliebig herausgegriffene Manuskripte ihres Mannes mit, die sie in den Briefkasten des Drei-Masken-Verlags steckt, der vor dem Krieg einmal Drachs de-Sade-Drama im Bühnenvertrieb hatte. Da es sich bei diesen Manuskripten nicht um Dramen handelt, übergibt der Lektor des Drei-Masken-Verlags diese Manuskripte an einen befreundeten Kollegen vom Langen-Müller-Verlag, der bei der Lektüre sofort Feuer fängt und an Drach nach Wien schreibt, er möge ihm doch alles Geschriebene senden.

1962 erscheint bei Langen-Müller dann das erste Drach-Werk mit dem Aufdruck: Gesammelte Werke Band 1, — es handelt sich um den schon 1939 geschriebenen Roman „Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum“, der den Leidensweg eines armen jüdischen Hausierers in der umständlich-verschnörkelten altösterreichischen Sprache der Gerichtsprotokolle erzählt – und ganz unerwartet zur literarischen Sensation des Jahres wird.

Bei den Kritikern provoziert Drachs Buch allerhöchste Vergleiche – Drach wird in einem Atemzug mit Kafka, Musil, Canetti und Herzmanovsky-Orlando genannt –  und auch das breite Lesepublikum ist begeistert und kauffreudig. Doch der zweite Band der „Gesammelten Werke“, eine Auswahl von Dramen in der Tradition des Wiener Volkstheaters und Nestroys, aber ins Monströs-Makabere verfremdet, findet bereits kaum mehr Leser. Dennoch erscheinen – inzwischen beim Claassen-Verlag – in rascher Folge noch weitere sechs Bände der „Gesammelten Werke“, allerdings nahezu echolos. Mitte der siebziger Jahre ist Drach ein völlig Vergessener, selbst Literatur-Lexika kennen ihn nicht mehr. Ab 1983 kann Drach, wegen Erblindung, auch seinen Anwalts-Beruf nicht mehr ausüben, er ist am Nullpunkt angelangt. – Doch da wird Michael Krüger auf ein Buch Drachs aufmerksam und beschließt, in seinem Verlag, dem Münchner Hanser-Verlag, einen neuen Anlauf zu wagen, um Drach dem Vergessen zu entreißen.

Gerade nun ist als erster Band einer auf mehrere Bände geplanten Drach-Ausgabe der Memoirenband „Unsentimentale Reise“ bei Hanser erschienen, in dem Drach seine Jahre im französischen Exil schildert – und zwar auf eine Weise schildert, als hätten sich Franz Kafka und Charlie Chaplin zusammengetan, um diesen ebenso tragischen wie grotesken Stoff angemessen zu bewältigen. Angemessen, das kann nur ironisch, das kann nur zynisch heißen. Drach ist nämlich zutiefst von der Verbesserungs-Unfähigkeit der Welt und des Menschen überzeugt, und da er überdies der Auffassung ist, der Schriftsteller habe nur eine einzige Pflicht, nämlich zu sagen, wie es wirklich ist, er also ein Anti-Idealist par excellence ist, reicht ihm bloße Skepsis bei der Zustandsbeschreibung der Welt nicht aus. „Der Skeptiker bleibt in den Bingen stecken“, meint Drach, „nur der Zyniker versteht, den Kopf herauszuheben“.

Albert Drach hat sich in einem Interview mit sich selbst einmal gefragt, ob er es für richtig halte, den Helden eines Romans „wie einen Gegner zu behandeln“ – und er hat sich mit einem klaren Ja geantwortet.

Konsequenterweise gibt es deshalb bei Drach auch nicht die guten Opfer und die bösen Täter, sondern alle sind gut oder böse nur nach Maßgabe ihrer jeweiligen Lebensbedingungen. Der da gerade zur Gaskammer getrieben wird, wäre – - meint Drach – sofort bereit, den Platz mit seinem Verfolger zu wechseln. Die Heiligen sind nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt, auf Ausnahmen aber ist kein Verlaß. Es ist eine Verbitterung von geradezu alttestamentarischer Wucht, die Drach die Feder führt, wenn er mit dem Erdenschicksal der Menschen und mit Gott hadert. Zitat:

„Und Gott schläft noch immer und man wird von ihm nie erfahren, was er sich bei der Erschaffung der Welt gedacht hat und warum sich Moral mit Unschuld nicht vereinigen läßt und warum wir um so unseliger werden, je mehr wir uns an den Früchten vom Baum der Erkenntnis vollfressen, obwohl Satan längst Beamtenlivree trägt und die Schlange Amtscharakter hat und nicht mehr beleidigt werden darf.“

 

Der bezeichnende Titel eines Drach-Essays lautet: „Die Abschaffung Gottes und dessen Ersatz durch die Behörde“. Drach hat in seinem furchtbar ereignisreichen Leben permanent erfahren müssen, daß er –  wie Kafkas K. – nur eine Nummer, nur der Spielball von Behörden war, die ihrerseits aus lauter Nummern, lauter Nullen zusammengesetzt waren. Die böse Brillanz, mit der er diese Erfahrung der absoluten Wertlosigkeit des Menschen in seinen Büchern dargestellt hat, macht Drach zu einem der eigenwilligsten Autoren dieses Jahrhunderts, zu einem Klassiker der Moderne. – Hören Sie jetzt, gelesen von Rudolf Wessely, den Schluß des ersten Teils der „Unsentimentalen Reise“ von Albert Drach, in dem dieser seine unerwartete Entlassung aus einem französischen Internierungslager schildert:

 

RUDOLF WESSELY LIEST AUS „UNSENTIMENTALE REISE“ VON A. DRACH

ERWIN SCHULHOFF: ABSCHNITT AUS DEM STREICHSEXTETT

 

Albert Drach, von dem Sie einen Auszug aus seinem bei Hanser erschienenen Memoirenband „Unsentimentale Reise“ hörten, meinte nach dem Krieg einmal, er „sei nicht sicher, ein Überlebender zu sein“.

[…]