Daniela Strigl im Gespräch mit Albert Drach, der am 17. Dezember 90 Jahre alt wird

»Das Dumme, welches auch das Böse ist«

WIENER JOURNAL DEZEMBER 1992/JÄNNER 1993

 

»Meine Mutter habe ich nicht sterben sehen. Ich habe sie bloß ermordet. Ich habe sie zurückgelassen unter Hitlerschurken und -banden in dem Land, das einmal meine Heimat war, für dessen Volk ich nurmehr die tiefste Verachtung aufbringe, wie jetzt in diesem Augenblick für mich selbst, der auch ich diesem Volk angehöre, wenn ich auch außerdem ein Jude bin.« (»Unsentimentale Reise«)

Albert Drach, Anwalt in Ruhe, Dichter in permanenter Unruhe, Büchner-Preisträger des Jahres 1988, lebt und arbeitet, wiewohl erblindet, im Drachhof zu Mödling. Warum ist er schon 1947 aus dem französischen Exil heimgekehrt? »Ich bin hauptsächlich wegen meiner Halbschwester zurückgekommen. Sie hat einen Multimillionär geheiratet, der war geistig eine Niete, er konnte nicht einmal richtig lesen und schreiben. Er hat alles am Rennplatz verspielt, hatte keine Reserven, am Schluß hatten sie nichts. Er hat alle meine Bücher verkauft.«

In seinen autobiographischen Büchern »Z. Z. das ist die Zwischenzeit«, einer höchst persönlichen Bestandsaufnahme Österreichs zwischen den Kriegen, und »Unsentimentale Reise«, einer Beschreibung seines Flucht-Weges nach und in Frankreich, geht Albert Drach nicht nur mit seinen Feinden und Verfolgern hart ins Gericht, sondern auch mit sich selbst. Wegen seiner Mutter macht er sich »noch heute Vorwürfe«. Beim Abtransport zum deutsch-französischen Sammellager faßt er den »Entschluß weiterzuleben«.

In dem Bewußtsein, angesichts des Massensterbens sein Leben »gestohlen« zu haben, entrinnt der Spieler Drach immer wieder um Haaresbreite dem Tod – auch dank einem gehörigen Quantum Galgenhumor: »Meine Halbschwester hat mir ihre Papiere gesandt. Ihre Familie hat Generationen zurück ihre nichtjüdische Abstammung beweisen können. Die Franzosen sind Gott sei Dank ein oberflächliches Volk. Sie haben nicht gewußt, daß mein Vater zweimal verheiratet war. Ich habe gesagt, das war ein Doppelname, und das haben sie mir abgenommen. Taufscheine hätte ich seinerzeit nachgeworfen bekommen. Mein ehemaliger Lehrer am Akademischen Gymnasium war Chorherr in Klosterneuburg. Aber ich wollte damals kein falsches Dokument haben. Später mußte ich eben. Vielmehr, ich hatte ein Dokument, das meiner Phantasie, aber nicht einer falschen Urkunde entsprach.

Auf die Frage, warum ich von den Nazis als Jude behandelt worden bin, hab ich gesagt, ich war 1935 jüdischen Glaubens. Das war auch notwendig, denn wenn man mich untersucht hätte ... Aber 1939, habe ich denen eingeredet, war ich es nicht mehr, und deshalb steht hier »I.K.G.« auf dem Heimatschein – »im katholischen Glauben«. In Wirklichkeit hieß das »lsraelitische Kultusgemeinde«.

Obwohl Albert Drach sich als nicht gläubig deklariert, zeigt er ein lebhaftes Interesse für die »Kurzschlüsse in der göttlichen Vorsehung«, für die merkwürdigen, unberechenbaren Fügungen, die sich als Zufallsprodukte manifestieren. Betont er das Mystische in Kontrast zur faßbaren Wirklichkeit? »Einerseits in Kontrast zur Wirklichkeit, andererseits in sie eingeordnet.«

In »Z.Z.« tritt ein ostjüdischer Hausierer ohne Ware auf und erklärt auf die Frage nach seinem Begehr, er sei gekommen, »um dazusein«. Drach deutet diese Figur im Text widerstrebend als einen Botschafter des Unwirklichen, ja als Gotteserscheinung. War das eine wirkliche Begebenheit? »Ja, obwohl meine Kanzlistin von damals gesagt hat, sie hat ihn nicht gesehen.« Der scheinbar absichtslose Hausierer wird später (1939) das Vorbild für den armen Juden Zwetschkenbaum, der unter dem Verdacht des Zwetschkendiebstahls in die Mühlen der österreichischen Justiz gerät.

 

Protokoll als Romanform

Albert Drach hat das Protokoll zur Romanform erhoben. – »Ich bin der Überzeugung, daß weder die Deutschen noch die Franzosen den Roman gehabt haben, sondern nur die Engländer, die ihn bei der Schlacht von Trafalgar von den Spaniern erobert haben. Die Franzosen hatten den Roman deshalb nicht, weil sie für Nebensächlichkeiten zu großes Interesse hatten. Bei ihnen kommt es wie bei Balzac nur auf die Charakteristik an, aber nicht auf die Handlung. Und ohne Handlung, ohne Entwicklung gibt es keinen Roman. Die Deutschen wiederum waren mit Johann Peter Hebel die Schöpfer der Kurzgeschichte. Aber wo es länger gegangen ist, haben sie ganz einfach ausgewalzt. Sogar bei Theodor Fontane sieht man das. Das geht eben nicht. Der Roman muß den Menschen von außen erfassen. Er kann ihn auch schlecht erfassen, und am Schluß sieht der Leser durch diese schlechte Erfassung hindurch. – Die längste Zeit wissen Sie beim >Großen Protokoll gegen Zwetschkenbaum<, daß er nicht der Brandstifter ist. Sie sehen aber, daß die Beweise komplett werden. Es muß immer irgend etwas geschehen, damit etwas anderes geschieht. Und alles, was Zwetschkenbaum tut, der naiv ist bis zum äußersten – kommt ihm nicht zum Bewußtsein. Niemand wird ihm glauben.«

Wichtig für Albert Drach ist – »auch als Stilist« – Friedrich Nietzsche. »Von ihm ist dieses Wort: >Über große Dinge soll man schweigen oder groß sprechen. Groß, das ist zynisch und mit Unschuld. < Und der Zynismus, der bei mir immer wieder vorkommt, richtet sich natürlich gegen alle handelnden Personen, auch gegen die Unschuldigen, die Opfer, denn auch die begehen Fehlleistungen.«

Die Größten: Kafka und Musil

Gibt es außer Musil und Kafka österreichische Autoren, die Drach schätzt? »Eigentlich nicht. Das waren die größten. Aber ich halte sie auch nicht für Romandichter, sondern für Schöpfer eines besonderen Stils und einer besonderen Anschauung. Bei Kafka weiß man im vorhinein, worauf die Sache hinausläuft. Der Held ist schon verurteilt, bevor er auftritt. Und bei Musil gibt es überhaupt keine Handlung, nur in seinen Theaterstücken.«

Und die am meisten überschätzten Autoren?

»Die meisten; ich will da keine Namen nennen. Von den verstorbenen halte ich den Jakob Wassermann für einen nicht sehr guten Autor, auch nicht den Stefan Zweig.«

Hat Drach ein Lieblingsbuch unter seinen eigenen? >O Catilina< . Nach meinem Wunsch wird es als nächstes herauskommen, zusammen mit dem >Goggelbuch<. Unter dem Titel >Traumausbrüche<, denn das Ganze wird erzählt wie ein Traum. Es ist aber auch möglich, daß als nächstes >Die kleinen Protokolle< herauskommen, die werden jetzt schon sehr verlangt. Es gibt auch ein Anbot von einem österreichischen Verlag an meinen, >Das Beileid<, die Fortsetzung der >Unsentimentalen Reise< herauszubringen.«

Albert Drach verwendet in seinen Büchern hartnäckig typisch österreichische Formen und Vokabeln, die er mit kleinen didaktischen Anmerkungen versieht: »Das ist sogar dem Duden aufgefallen. Ich habe in Frankreich Deutsch unterrichtet, und die besten Schüler haben mich verklagt, daß ich ihnen >ich bin gesessen< usw. beibringen will. Aber ich werde von dem nicht abgehen, da bin ich der Ansicht von Karl Kraus: >Die Deutschen sind auch beim Sitzen und beim Liegen nicht müßig.<«

 

IA UND NEIN

Das Geburtstagspräsent des Verlages, der Band »IA UND NEIN«, ist soeben erschienen. In den drei Erzählungen, die vor etwa zehn Jahren entstanden sind, führt Albert Drach einmal mehr die Unvereinbarkeit von Bürokratie und Menschlichkeit vor. In »IA« nimmt die bürokratische Abhandlung eines von einer im Atombunker überlebenden Altherrenrunde geplanten Kindesmißbrauchs auf höchst skurrile Weise das aktuelle »Babyficker«-Thema vorweg. In »UND« agiert ein misanthropischer Richter ungestraft selbst als Rechtsbrecher,

der es sich zu richten weiß: »Ja, solche Leute gibt es. Die Fälle, die hier erzählt werden, sind wirklich vorgekommen, nur nicht alle bei demselben Richter.« In »NEIN« offenbart schließlich der mehrmalige Namens- und Identitätswechsel des Protagonisten die Absurdität jedes Rassismus. In der Bundeshauptstadt, heißt es hier, »habe man noch immer gewisse Ressentiments, d.i. Nachrangsbestrebungen, gegen die Jakob Heißenden, vielleicht allerdings im Hinblick auf das, was man ihnen angetan haben soll«. Ressentiments gibt es, wie die jüngsten Grabfrevel zeigen, auch in den Landeshauptstädten. Ist Österreich tonangebend im Antisemitismus? »Ja, dabei sind so viele Österreicher, von denen man es gar nicht weiß, jüdischer Abstammung.«

In »Z.Z.« findet sich die Formulierung »Das Dumme, welches auch das Böse ist«. Gilt das auch heute? »Ja, denn was haben die Kroaten und Bosnier, die zu uns kommen, mit den Juden zu tun? Und was war der Hitler: Er hat die zweite Klasse nicht mehr bewältigen können. Dann hat er es mit der Malerei versucht, da ist er zweimal durchgefallen, öfter konnte man nicht. Dann hat er es als Anstreicher versucht, das konnte er auch nicht. Und dann hat er gesagt: >Da beschloß ich, Politiker zu werden.< In meinem >Kasperlspiel vom Meister Siebentot< (1935) sehen Sie, wie der Kasperl alle Phrasen, die erhört, aufgreift und den Menschen wieder zurückgibt. Und sie nehmen sie wieder von ihm an.«

 


Ein mietwesentlicher Bericht von Albert Drach

»Schmeck’s«

Wenn früher ein Fremdsprachiger eine Auskunft eingeholt und nichts oder anscheinend nicht den vorgestellten Betrag dafür bezahlt hatte oder sich sonst, wenn auch nicht ganz unmanierlich, in irgendeiner Sache den eigenen Vorstellungen nicht entsprechend verhalten hatte, aber in allen drei Fällen einem an Körperkraft unterlegen oder höchstens beinahe ebenbürtig, aber keinesfalls überlegen schien, dann kam es vor, daß man ihm die Eigenfaust vor Augen führte und ihm zurief: riach zu dem Ban.

Dabei war kaum vorausgesetzt, daß er seine Nase an die entgegengestreckte Rechte oder Linke her anführen sollte, um den Geruch zu verkosten, der möglicherweise kein abstoßender, nicht einmal unangenehm sein mochte, sondern nur, daß er sich als herausgefordert ansehen und demgemäß klein beigeben oder verschwinden sollte.

Aber diese Wortansammlung war späterhin weder nötig noch angemessen. Auch änderte das Wort Ban seine Bedeutung und wurde statt für eine vor Augen geführte Faust für eine angehende Hure üblich, sodaß nunmehr diese mit diesem Ausdruck gemeint war, wenn einer zum Beispiel zum Ausdruck brachte: »Mein Herr, wolln‘s ein Bein?« und, wenn der diese Bedeutung nicht gleich verstand, konnte ihm der Satz: »Fahr ab, du Jud‘« entgegengeschleudert werden, obwohl der Verabschiedete durchaus nicht der betreffenden Religion oder angeblichen Rasse angehören mußte, sondern nur auf hitlerische Art getroffen werden sollte.

Im übrigen genügte bereits im Verkehr zwischen Personen verschiedener Ansicht, wenn einer dem anderen keinen Aufschluß über irgend etwas, geschweige denn die Andeutung einer Aufklärung schuldig zu sein glaubte, diesem das Wort »schmeck‘s« zuzurufen, was sinnbildlich immerhin die ablehnende Gebärde von dem Riechorgane auf den mündlichen Genußsinn übertrug und dafür von keiner weiteren Gebärde begleitet sein mußte, wenn auch bei unmittelbarer Anschauung zwischen verschieden gewichtigen Seiten dem Stärkeren und dem den Ausdruck Gebrauchenden das Zähneausschlagen, wiewohl mehr bildlich, hinzukam. Mithin ist ein Titel für den nachfolgenden Bericht gefunden.

 

Die Parteienvertreterin Emerentia Plumpsernickel hatte schon ihres Aussehens halber nie viel Glück in der Liebe gehabt. Jenes Scherflein daran, das ihr wider Erwarten damals zugeflossen

kam, rührte von der irrigen Auffassung eines Vermittlers her, er würde durch eine Art Ehe mit ihr an Ansehen und Einkünften verdienen, und brachte nur baldige Scheidung.

Ein Knabe. zudem schon vorher der Grund gelegt worden war, kam erst später zur Welt, behelligte aber durch seine verzögerte Geburt niemand, weil er alsbald verstarb. Es folgten Wochen, Monate, Jahre, die unbemannt verliefen, bis ganz zuletzt ein schon abgedankter Anwalt, der wegen übermäßigen Genusses vieler alkoholischer Flüssigkeiten schon vorzeitig seine Pfründe aufgegeben hatte, sich herbeiließ, die spät und keineswegs zum Frühlingszauber erblühte, aber bisher höchst nüchtern gebliebene Kollegin von ihrer aufgenötigten Keuschheit zu befreien, wozu beiden mengenmäßig zureichender ergänzender Alkoholgenuß für

ihre Liebesausübung nötig schien, um diese zu bewirken und mangels sonstiger Anziehungsbedingungen aufrecht zu halten.

Um diese Zeit hatte das Mietwesen in Österreich seinen äußersten Tiefpunkt erreicht. Eine Institution, die sich Mietervereinigung nannte, beherrschte neben der Regierung und häufig sogar über derselben das öffentliche Leben und verstand es, die Liegenschaftseigentümer zu Verwaltern ihrer eigenen Häuser zu machen, die nur eine Quote von zehn Prozent der Mietzinse verrechnungsfrei kassieren durften, die restlichen, ohnehin geringfügigen Summen aber bis auf den letzten Groschen den in ihre Gebäude einziehenden, oft auch behördlich eingewiesenen Benützern zu verrechnen hatten.

War allerdings eine Baufläche so sehr verfallen, daß entweder ein Bewohner oder der Scheineigentümer eine Wiederherstellung des früheren Zustands anstrebte, wurde eine gerichtliche Kommission eingesetzt, die durch Sachverständige den Zustand und seine wohlfeile Bewältigung überprüfte, dann einen Kostenbetrag bestimmte, diesen auf

mindestens neun Jahre erteilte und dann in Ausübung des mietenbolschewistischen Grundsatzes eine Verteilung auf mindestens zehn Jahre vornahm, wobei die Liegenschaftsbesitzer ihr Gebäude hypothekarisch zu belasten hatten. An eine Kündigung der Mieter war überhaupt nicht zu denken. Der Eigenbedarf, der bei langjährigem Eigentum die Entfernung der Mieter bewirken konnte, versagte bei Neuerwerbungen vollends, es sei denn,

der Bewerber böte dem Mieter eine gleichwertige Wohnung an, die diesen auch nicht mehr an Zins belastete. An sonstigen Kündigungs-Gründen war nur der vorübergehend wirksam, daß selbst eine geringfügige Zahlung längere Zeit ausblieb und nicht noch während des Kündigungsverfahrens nachgebracht wurde. Dazu kam eine eigentumsfeindliche

Judikatur, die selbst zwischen den Parteien geschlossene Räumungsvergleiche nur bedingt als gültig ansah und dem Mieter das Recht zusprach, auch vorausblickende Vermieter jederzeit wirksam zu übertölpeln.

Als nun die schon geschilderte Anwältin die Kanzlei ihres Vaters, eines durchaus mittelmäßigen, aber vielseitigen Rechtsbeistandes, erbte, verlegte sie sich hauptsächlich auf die Vertretung der Vermieter, weil für diese rechtlich ohnehin wenig machen war. Denn der Staat nahm es in Kauf, daß 100.000 keine Wohnung bekamen, weil Eigentümer, die sich an das Gesetz hielten, lieber gar nicht mehr vermieteten, als für ein paar Groschen Verwaltungsschikanen ausgesetzt zu werden.

Ausgenommen von den die Mieten zugunsten der Nutznießer regelnden Bedingungen waren allerdings Kleingebäude mit nicht mehr als zwei Wohnungen, darunter besonders Villen in schöner Lage, alles das aber nur dann, wenn die Wohnung nur auf bestimmte Zeit vermietet und sodann sofort zurückzugeben wurde. Eine Veränderung der Miete war ausgeschlossen. In einer Randnote wies die kommentierte Gesetzesausgabe auch noch darauf hin, daß die Wohnung, um eine Mieterschutz-Begünstigung zu erlangen, nicht zu Geschäftszwecken benützt werden durfte.

 

Bessy Pute war eine Hilfesuchende, die sich im Alter von fast fünfzig Jahren an die Rechtsanwältin Plumpsernickel wandte, und zwar in der abenteuerlichen Absicht, Erfolg in einem Rechtsstreit gegen eine Mieterin ihrer Villa zu finden. Diese war von ihr in eine Wohnung, bestehend aus vier Zimmern mit eingerichteter Küche, aufgenommen worden, wobei sie sich noch die fallweise Unterbringung von Personen, die keine Unternehmer sein und nicht länger als einige Tage im Hause verbringen durften, ausbedang, sowie verschiedene

Veränderungen im Untergeschoß, welches aber Frau Pute zugänglich bleiben mußte, wann immer sie wollte, und zwar, um die dort liegenden Leitungen für Gas und elektrisches Licht zu kontrollieren, so sie nicht gerade störte.

Es war der Wohnungssuchenden ein Vertragsentwurf vorgelegt worden, den sie in manchen Stücken verändert wünschte, im übrigen aber nicht beanstandete. Frau Kunigunde Salamander war eine forsche Frau mit hinaufgenähtem Gesicht und starren Pupillen, die auf Frau Pute, ein primitives Weibsstück, einen unüberwindlichen Eindruck gemacht hatte. Dieser Eindruck blieb auch dann, als sich an einem Tage, den die Pute zur Besichtigung der Villa nutzte, statt einer Wohnung ein Kindergarten im Hause befand. Als Frau Pute mit offenen Augen die andre anstarrte, sagte diese: »Trinken wir eins. Sie sind mit mir viel besser dran als mit ihrem vorigen Mieter.«

 

Herr Alois Poppenbander hatte sich, sowie er die Villa mietete, die Frau Pute gehörte, als

Kaufmann deklariert. Obwohl diese Villa eben nur eine einzige Wohnung aufwies, fiel der Vertrag nicht unter das mietenbolschewistische Wohnungsrecht und konnte mit fünf Jahren befristet werden, durfte aber dann nicht verlängert werden, weil der Hauseigentümer sonst für die Delogierung eines Mieters in der Zeit nach der Fristverlängerung ins Unendliche bestraft worden wäre. Da sich aber schon nach drei Jahren herausstellte, daß Poppenbander das Gebäude nicht als Wohnung, sondern als Bordell genutzt hatte, wandte sich die Pute an

das Bezirksgericht von Blödenhausen, um die Aufhebung des Abkommens zu erreichen. Die Richterin Franziska Pinscherle, deren Vater Gerichtsvorsteher von Humbum, deren Gatte aber Untersuchungsrichter in der Hauptstadt war, ließ sehr deutlich durchblicken, daß der Prozeß nur dann gewonnen werden konnte, wenn das Bordell zumindest bei Einbringung der Klage neu eingerichtet war oder dessen Bestand erweislichermaßen erst kurz vorher bekanntgeworden wäre. Überdies setze ein Begehren auf Räumung doch wohl voraus, daß ein Bordell im Hause noch bestehe.

Der Doktor Habedieehre, der den Vertrag verfaßt hatte, war in der Lage gewesen, nachzuweisen, daß der goldbekettelte angebliche Kaufmann das junge Mädchen, das im Hause gearbeitet hatte, vorerst nach Deutschland anlernungshalber verschickt hatte, als es noch nicht siebzehn Jahre alt war. Er hatte dafür und für ein paar Vermögensdelikte von

erster Instanz eine Strafe von vier Jahren Kerker gefaßt, gegen die er allerdings berief. Während seiner Haft war aber die Wohnung für eine andere Hure benötigt worden, die in einem ferner gelegenen Bordell Dienst machte, um ihrem Bruder das Studium der Rechte für eine richterliche Laufbahn zu ermöglichen.

Der Doktor Habedieehre hieß vielleicht nicht so, weil es ihm auf die Ehre ankam, was niemand sonderlich interessierte, sondern weil er, wenn er zu grüßen vorhatte, niemandem einen guten Morgen oder gar einen solchen Tag oder eine geruhsame Nacht zu wünschen geruhte, auch wollte er Gott nicht zum Grüßen veranlassen.

Übrigens war er sich auch im Falle feierlicher Anrufung oder Anbetung nicht im klaren, ob er sich an ebendenselben wenden durfte, beziehungsweise es dann mit dem Urknall zu tun hatte. Dahingegen vertrat er die Ansicht, daß – ob mit oder ohne Anrufung – jeder und jede eine Autorität höchster Ordnung in sich selbst haben müßte, die man im Volksmund gewissermaßen als Gewissen bezeichne. Sie allein stelle die Gottheit dar, wie sie jedem

und allezeit zugänglich wäre und die innere Verantwortung auferlege. Für sich selber bedeute sie die höchste Autorität nicht irgendwo außen oberhalb dem Sternenhimmel, sondern tief innen. Manche allerdings gehen leer aus und haben keines. Wir brauchen kein Gewissen, sagen sich manche, sofern sie Mieter sind, wir haben ja das Mietengesetz.

Als Habedieehre den Vertrag für diese Villa verfaßte, den der angebliche Kaufmann für fünf Jahre abschloß, war also dafür gesorgt, daß er nicht länger als fünf Jahre dauere. Aber als es nach drei Jahren bekannt war, daß er unter Wohnung ein Bordell gemeint hatte, verlangte die Hauseigentümerin zwar, daß er sich anderswo umsehe, aber man fand, daß seine Zeit noch nicht abgelaufen war. Denn schließlich, ein Bordell konnte man in der Zeit haben, aber nicht außer der Zeit. Und warum habe man nicht stipuliert, daß er niemals auch nicht zwischendurch eines haben durfte?

 

Als dann das Haus nach Jahresfrist und Abschluß eines Vergleiches an Frau Pute zurückgegeben war, bewarb sich, wie erwähnt, Frau Salamander für diese Villa. Habedieehre, der auch diesen Vertrag verfaßte und nicht wollte, daß, falls man auch diese Mieterin wie den Kaufmann noch in der Wohnung beließe, wenn er schon längst wegen Transfers minderjähriger Mädchen ins nahegelegene Ausland zu Bordellzwecken selbst in Kerkermauern für vier Jahre Zuflucht gefunden hatte, setzte, wie auch schon erwähnt, in den Vertrag hinein, daß sie nur selbst zur Alleinbenützung die Wohnung benützen dürfte, daß sie Gäste nur zu Besuchszwecken und vorübergehend aufnehmen dürfte, daß es nicht immer dieselben sein dürften und sie aus verlängertem Aufenthalt kein Recht auf die Wohnung behaupten und ausüben dürften. Mit dem allen war die Mieterin einverstanden, aber sie beanspruchte andere gewisse Vorteile besonderer Art, die zu Protokoll genommen und dann von Frau Pute bewilligt worden waren. Schließlich konnte der Vertrag geschlossen werden.

 

Es gab eine längere Pause, bis Frau Salamander die Wohnung bezog, aber schon hüpften

die Kleinen über die Stiegen und in die eingerichtete Küche. Frau Pute war sprachlos, allein die Hautspannerin besänftigte sie bald, indem sie fragte: »Ist das nicht besser als ein Bordell?« Und das konnte die Pute nicht bestreiten.

Ob dieses Nichtbestreitens mußte sie später zulassen, daß ihr der Hals umgedreht wurde. Und auch gegen Habedieehre wandte sich die Richterin, indem sie einwendete, wie dies der Klageanwalt ausgedrückt hatte, wenn er – der doch einige Büchergeschrieben habe – von Alleinbenützung rede, müsse er gedacht haben, daß sie einen Kindergarten errichten dürfe, und sie habe dies auch von Anfang an im Sinne gehabt. Und jetzt könne sie immer drinnen bleiben, denn für einen Kindergarten hätte bei Vertragsabschluß keine Befristung gegolten, auch wenn sie sich gegenüber dem Anwalt der Vermieterin vor derselben Richterin zur Räumung verpflichtet hatte.

Daß sie bei Miete eines Kindergartens mehr als das Doppelte hätte zahlen müssen, war bedeutungslos. Denn der sprachlose Dr. Würstl, der für die bejahrte Mietanwältin zur Verhandlung erschien, ließ die Gegnerin nachträglich vereidigen, und es war das

erste Mal in den hundert Jahren, die das Gesetz bestand, daß ein Anwalt der eigenen Partei die Gegnerin vereidigen ließ. Er sagte freilich nachher, er sei sehr jung und habe vielleicht einen leichten Unsinn gemacht. Frau Pute jedoch meinte, sie koste der Spaß etliche hunderttausend Schilling, da der Streit für das Gericht zwar als Bagatellesache, für die Kosten aber mit dem 30fachen bewertet sei.

Als Habedieehre die Sache betrachtete, war ihm nur darum zu tun, seine Ehre wiederherzustellen. Zwar hatte man in der Tat beschlossen, für künftige Vermietungen auch Unternehmungen, selbst bei einer Verlängerung der Mietzeit um weitere fünf Jahre, als mieterschutzfrei einzubeziehen, aber nicht für solche, die schon früher liefen.

Und gegen Beleidigungen durch das Gericht gibt es nichts.

 

(1992)

 

Lieferbare Titel:

  • Unsentimentale Reise. Ein Bericht. Hanser, München, Wien 1988
  • Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum. Roman. Hanser 1989
  • »Z.Z. « das ist die Zwischenzeit. Ein Protokoll. Hanser 1990
  • Untersuchung an Mädeln. Kriminalprotokoll. Hanser 1991
  • JA UND NEIN. Drei Fälle. Hanser 1992